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nmz-archiv
nmz 2008/04 | Seite 37
57. Jahrgang | April
Bücher
Dauerhafter Erkenntnisgewinn
Nikolaus Harnoncourts Sicht auf romantische Musik
Nikolaus Harnoncourt: „Töne sind höhere Worte“.
Gespräche über romantische Musik, hrsg. v. Johanna Fürstauer,
Residenz Verlag, Salzburg/St.Pölten 2007, 415 S., € 22,90,
ISBN 978-3-7017-3055-1
„Die Notenschrift ist eine magische Schrift“. Weil
sie nie eindeutig ist. Weil sie nur Näherungswerte abbildet.
Weil das Nicht-Gesagte in ihr manchmal mehr sagt als das Sichtbare. – Was
Nikolaus Harnoncourt 1988 in seinem Text „Die Magie der Notenschrift“ zusammenfasst,
ist sein Credo, schon sein ganzes Musikerleben lang. Nun lässt
sich dieser Text erstmals nachlesen, in einem Band, der zum weit überwiegenden
Teil Gespräche mit dem Dirigenten enthält. „Töne
sind höhere Worte“ – mit diesem Schumann-Zitat
ist das neue Buch überschrieben, das, historisch gesehen,
da anknüpft, wo der 2005 erschienene Band „Mozart-Dialoge“ aufgehört:
bei Beethoven. Von dort führt der Weg in insgesamt vier größeren
Abschnitten quer durch die Romantik bis zu Strauß, Verdi
und Bizet.
„Musik muss die Seele aufreißen“, sagte Harnoncourt
in einem Interview 2003 – und das gibt die Richtung vor,
in die auch seine verbale Musikexegese geht. Nichts ist für
ihn beiläufig, nichts bleibt unhinterfragt. Teilweise ist
dieses Buch sehr persönlich. Im Zusammenhang mit Dvorák
und Smetana erklärt Harnoncourt seine tschechischen Wurzeln.
Franz Schubert ist für ihn der Komponist, „an dem mein
Herz am meisten hängt“. Munter erzählt er von seinen
frühen Schubert-Kammermusik-erfahrungen im Haus der Eltern,
von Enttäuschungen in Wien und dem privaten Vergnügen,
mit seiner Frau und dem jungen Alfred Brendel die Klaviertrios
gespielt zu haben. Bei Bruckner gibt Harnoncourt zu, in seiner
Zuneigung etliche Aufs und Abs erlebt zu haben, wohingegen er für
Brahms stets eine „fast schon spießerhafte Verehrung“ empfunden
hat. Auch wenn die hier abgedruckten Gespräche einen Zeitraum
von 25 Jahren abdecken – nie hat der Leser den Eindruck,
dass Harnoncourts Aussagen an Erkenntnisgewinn eingebüßt
haben; immer wieder und immer noch kann man ihnen leidenschaftlich
zustimmen oder widersprechen, etwa bei seiner Bewertung von Verdis „Aida“,
die er als „ganz große Kammermusik“ deutet. Stets
hat Harnoncourt ein Bündel an triftigen Begründungen
parat, stets argumentiert er nah am Werk. Wenn er verallgemeinert,
dann aus persönlicher Sicht. So fasziniert ihn bei Beet-hoven
stets die Meisterschaft der „Erwartungstäuschung“,
dass Beethoven etwas vorbereitet, dem Hörer aber die erwartete
Lösung vorenthält.
Die Harnoncourt-Fangemeinde wird einige der Texte leicht wiedererkennen;
denn die Herausgeberin Johanna Fürstauer hat nicht nur entlegene
Interviews und Quellen aufgetan, sondern auch die Booklet-Einführungen
zu Harnoncourts CD-Aufnahmen abgedruckt. Das ist, unter systematischen
Aspekten, zweifellos ein Gewinn. Allerdings hätte man den
redaktionellen Aufwand ein wenig erhöhen können, um Wiederholungen,
manchmal innerhalb weniger Seiten, zu vermeiden. Ein insgesamt
kurzweiliger Band, dessen lockere Kapitelfolge keine zusammenhängende
Lektüre erforderlich macht, sondern ein beliebiges Aus- und
Wiedereinsteigen ermöglicht.