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nmz-archiv
nmz 2008/04 | Seite 35
57. Jahrgang | April
Rezensionen
Heldenverehrung in den Hüpfburgen des Anekdotischen
Herbert von Karajan wäre 100 geworden: Ein kritischer Blick
auf Bücher, CDs und Gesamteditionen
„Wie schwer ist es, zu diesem krönenden Geburtstag nur wenige
Gedanken auszusprechen.“ Die Verlegenheit Yehudi Menuhins
zu Karajans 80. Geburtstag ist geblieben. Was noch sagen, wo alles
gesagt, die Superlative ausgereizt, Titel und Würden verliehen,
kopiert, wieder eingefügt sind? Heribert Ritter von Karajan,
geboren am 5. April 1908 in Salzburg – war er nur im Nebenberuf
Kapellmeister, eigentlich aber: das Wunder Karajan, der Dirigent
des Wirtschaftswunders, der Generalmusikdirektor Europas, der kontrollierte
Ekstatiker, der Maestro der Millionen? Die Auswahl ist ebenso üppig
wie unvollständig, wobei im Metapherngestöbe, das
jetzt zu „Karajan 100“ noch einmal durch die Windkanäle
der Feuilleton-Redaktionen und Marketing-Institutionen geschickt
wird, sich vergleichsweise rar macht, was Menuhin vorschwebte:
Gedanken zu Herbert von Karajan.
Herbert
von Karajan und Christa Ludwig, die im März ihren
80. Geburtstag feierte. Foto: Siegfried Lauterwasser/DG
Ein Blick auf den aktuellen Karajan-Bücher- und Plattenmarkt
bestätigt den Befund: Substanz eher an den Rändern der
Gedenkmaschinerie, die selbst noch einmal ein großes Geschäft
werden soll, eine Art Trostpflaster für an ihrer Mission zweifelnde
Tonträgerproduzenten in Endzeitstimmung. Gott sei Dank downloaden
Klassik-Kunden ungern, stellen sich lieber ihre Kauf-CD ins Regal,
weshalb denn auch ein Unternehmen wie die Deutsche Grammophon noch
zehn Jahre nach Karajans Tod fast ein Drittel ihres Umsatzes immer
noch mit Karajan-Wiederveröffentlichungen bestreitet. Allenfalls
mit dem „Image“ ihres Heroen hätte man heute,
so hört man, „Probleme“, will sagen: Absatzprobleme.
Die wiederum – noch stimmen die Reflexe – geht man
streng marketingmäßig an. Die Allzwecksalbe, die aufgetragen
wird, folgt bewährter Rezeptur, wenn etwa eine „wunderbare
Zusammenstellung seiner grandiosen Interpretationen von Bach
bis Vivaldi“ als „Karajan Gold“, eine die Werkzusammenhänge
aufhebende Kunterbuntmischung exakt zum Termin auf den Wühltisch
geworfen wird. Mag Karajan selbst auch noch so sehr an Werk und
Werkidee, an Geschlossenheit und Zyklen festgehalten haben – egal.
Die Highlight-Show muss weitergehen. So wird recycelt auf Teufel
komm raus. Den Überblick zu behalten ist schwer. Kaum eine
Woche vergeht, in der nicht irgendeine Best-of-Mischung in den
Warenkorb geklickt werden kann. Spätestens seit 2007 läuft
das Fließband: „Master Recordings“ 1959 bis 1979
(10-CD-Box); „Complete recordings Karajan/Mutter 1978 bis
1988“ (5 CDs), „Karajan – The music, the legend“ (CD/DVD), „Karajan – Symphony
Edition“ (4-CD-Box); pünktlich zum Geburtstag „Karajan
2008“ (2 CDs, 1 DVD), „Karajan in concert“...
Allenthalben wird wiederveröffentlicht, umetikettiert. „The
Great Decca Recordings“ (9-CD-Box) von 1995 erscheinen als „The
legendary Decca Recordings“ und auch Sony-BMG sucht neue
Käufer für seine alten Karajan-Home Videos. Die Karajan-Zitronenpresse – noch
leistet sie weiter gute Dienste.
Einzig EMI, Karajans erster großer Partner nach dem Krieg,
fällt mit ihrem Beitrag zum Karajan-Jahr merklich heraus.
Wo die Mitbewerber weitertaktieren, sich dies und jenes noch fürs
eine oder andere Jubiläum aufheben, hat sich EMI entschieden
und zwei wuchtige Monumentalboxen aufgelegt: „Karajan – The
complete recordings 1946–1984“ (Vol. I: Orchestral,
88 CDs, Vol. II Opera and Vocals, 72 CDs). Ein Unternehmen auf
Augenhöhe insofern Karajan in Fortsetzung der großen
Editionsprojekte des 19. Jahrhunderts den Begriff des Musikdenkmals
ja tatsächlich ganz neu definiert hat. Das Repertoire von
Bach bis Strawinsky (je nach Stand der Technik mit einem kompositorischen
Gesamtwerk auch in mehrfacher Einspielung) als enzyklopädisch
angelegtes Tonkunstklang-Dokumentations-Unternehmen. Solchem Anspruch
hat EMI mit dieser prachtvollen Edition zweifellos Rechnung getragen.
Bedauerlich ist, dass ein Projekt dieses Umfangs die Plattencover-
und Begleithefttexte aus 25 Jahren unter den Tisch hat fallen lassen.
Wer so sichtbar eine Ära abschließt, sollte es mit einem
Minimum an historischem Bewusstsein, an wissenschaftlich-dokumentarischen
Sekundärtugenden tun. Hier fehlt es etwa an so elementaren
Dingen wie einem Index, der die beträchtliche Informationsmenge
erschließen hilft.
Wenn es eine Tendenz des Materials zum Großereignis „Karajan
100“ gibt, ist es die Legendenerzählung. Der Heros,
so die unausgesprochene Regieanweisung, darf nicht greifbar
sein, er ist aus den Konflikten der Realität zu entlassen.
Die Folge ist ein denkwürdiger Spagat: Einerseits ist Karajan
Person der Zeitgeschichte, andererseits soll er über diese
Geschichte herausragen, womit es wieder hervorgeholt ist – das
alte Ritual der Heldenverehrung. Wohin gehört der Held? Auf
sein Denkmal! Eine Botschaft, die die Deutsche Grammophon verstanden
hat: „Karajan – Mensch und Mythos“ ist „das
erste Hörbuch über ein in vielen Belangen außergewöhnliches
Künstlerleben“. Unter allen Veröffentlichungen
im Karajan-Gedenkjahr gehört es zu den fragwürdigsten.
Autor Richard Osborne hat seine wiederaufgelegte 1000-Seiten Biografie
(Herbert von Karajan – Leben und Musik, dtv, München,
2002) als Steinbruch benutzt. In der Hörbuch-Version (DG 00289
480 0365, 3 CDs) wird daraus „Ein Porträt in sieben
Szenen“, das das Gebrochene dieser Biografie auch durch einen
alibabahaften Erzählton ins stilisiert Literarische zu wenden
sucht. Wo immer der Fluss ins Stocken geraten könnte, wird
weg-, wird überblendet. Im Grunde ist Karajan Pazifist, erfahren
wir von Osborne, zwar auch ein „Anführer von suggestiver
Kraft“, ein „Hypnotiseur“, aber eigentlich ein „Mann
der Berge“, jedenfalls nicht von dieser Welt. Da muss die
Erwähnung des Entnazifizierungsverfahren
irgendwie hineingerutscht sein, war doch von einem vorangegangenen
NSDAP-Mitglied Herbert von Karajan nichts zu hören, schon
gar nicht vom Versuch desselben, zwei Mal Mitglied bei den
Nazis zu werden. Nein, für den gewissenlosen Opportunismus
Karajans hat diese abhörbare Künstlerbiografie kein Ohr.
Man ahnt, was da auf uns zukommt, wenn dieser Prototyp ‚Biografie
als Hörbuch’ einmal in Serie geht ...
Schön- und kleingeredet wird auch in einer anderen Jubiläumsproduktion. „Christa
Ludwig: Meine Dirigenten Bernstein, Karajan, Böhm“ (DG
442 9975, 3 CDs) kombiniert die äußerst hörenswerten
Aufnahmen der Sängerin, etwa ihre berückend schönen
Mahler-Rückert-Lieder unter Karajan, mit Anekdotischem. „Markante
Erinnerungen“, so die Eigenwerbung, sehen anders aus.
Und inwiefern aus jeder Anekdoten-Hüpfburg ein Buch werden
kann, beweist der Ullstein-Verlag, indem er für die Liebhaber
der leichten biographischen Kavallerie die Erinnerungen des ehemaligen
Mannequins und letzter Karajan-Ehefrau Eliette von Karajan abgedruckt
hat. Das Buch mit repräsentativen Fotografien aus dem Familienalbum
handelt von der „Geschichte einer großen Liebe“,
von einem Prinzen, einer Prinzessin und einem Schloss. (Eliette
von Karajan: Karajan – Mein Leben an seiner Seite, AutoBiografie,
Ullstein, Berlin 2008)
„Wie schwer ist es, zu diesem krönenden Geburtstag nur wenige
Gedanken auszusprechen.“ So recht Menuhin hatte – eines
kann hinzugefügt werden: Es geht. Man muss nur wollen. Zu
den Karajan-Auseinandersetzungen von Erwachsenen für Erwachsene
zählen insofern vor allem jene Perspektiven, die sich dem
Musiker über seine Musik nähern. Mit Eleonore Büning
(Herbert von Karajan – Ein Dirigent wird besichtigt, SWR2,
14 Teile; Karajan Dirigent – Ein Interpret wird besichtigt,
insel taschenbuch 3327, Frankfurt am Main 2008) und Peter Uehling
(Karajan – Eine Biografie, rowohlt 2006) profilieren sich
dabei ausgerechnet zwei Autoren, die den Dirigenten nicht mehr
bewusst erlebt haben
In beiden Fällen (auch wenn zumal Uehling sein Unternehmen
immer noch explizit als Biografie ausgibt – was sein Anliegen
gerade nicht ist) geht es um die Ästhetik der Tonkunst wie
Karajan sie verstand. Was genau definiert den Karajan-Sound? Wie,
um welchen Preis wird er erzeugt? Was geht dabei aufs Konto der
Studiotechnik? Und: Stimmen wirklich alle Vorurteile? Was genau
erbringt ein Interpretationsvergleich Karajan/Boulez, Karajan/Harnoncourt?
Schließlich: Was bleibt von Karajan? – Auch wenn damit
längst nicht alle Widersprüche aufgelöst, sämtliche
Fragen gestellt sind und auch wenn der karajan-immanenten Tendenz
zur Enthistorisierung der Musik nicht immer entschieden genug widersprochen
wird – ein Anfang ist gemacht.