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nmz-archiv
nmz 2008/04 | Seite 39
57. Jahrgang | April
Noten
Editionen mit hohen philologischen Standards
Drei Messen von Bach, Schubert und Beethoven in kritischen Neuausgaben
Johann Sebastian Bach: Messe h-Moll BWV 232, hrsg. von Joshua
Rifkin, Breitkopf & Härtel (Partiturbibliothek Nr. 5363) Franz Schubert: Messe As-Dur für Soli, Chor und Orchester
D 678, hrsg. von Peter Jost, Breitkopf & Härtel (Partiturbibliothek
Nr. 5506) Ludwig van Beethoven: Messe C-Dur für Soli, Chor und Orchester
op. 86, hrsg. von Jeremiah W. McGrann, Breitkopf & Härtel
(Partiturbibliothek Nr. 14676)
Von den drei bei Breitkopf & Härtel erschienenen Messen
dürfte die h-Moll-Messe Bachs am bekanntesten sein. Gerade
bei deren Neuausgabe wird sich manch einer fragen, warum eine solche überhaupt
nötig sein sollte, liegt diese Komposition doch schon seit
langem in einer historisch-kritischen Ausgabe (NBA) vor. So zuverlässig
die Notentexte der Neuen Bach-Ausgabe in der Regel auch sein mögen,
die Überlieferungssituation der Quellen zur h-Moll-Messe stellt
jeden noch so erfahrenen Editor vor kaum zu lösende Probleme,
sodass es zwangsläufig die endgültige Ausgabe noch nicht
gab. Als Friedrich Smend 1956 BWV 232 in der NBA herausgab, waren
viele philologische Fragen noch gar nicht gestellt, die methodische
Herangehensweise an einen solchen Problemfall noch gänzlich
ungeklärt. Nicht nur, dass Smend glaubte, die Messe sei gar
kein in sich zusammenhängendes Werk, sondern auch sein Notentext,
der eine Mischung unterschiedlicher Fassungen darstellt, entspricht
nicht mehr (und tat es vielleicht auch 1956 schon nicht) dem heutigen
philologischen Standard, nach dem eine Quellenkontamination zu
vermeiden sei. Insofern bestand in der Tat immer noch Handlungsbedarf.
Dies umso mehr, als zwischenzeitlich zahlreiche Erkenntnisse zur
Bewertung der Messe an sich als auch der vorhandenen Quellen gewonnen
werden konnten. Wo aber stecken die Probleme bei diesem Werk? Zum
einen wurde die Missa bekanntlich weitgehend aus bereits existierenden
Teilen quasi zusammengesetzt. Nur von einigen dieser früheren
Werkfassungen wie dem „Sanctus“ von 1724 und der Missa
mit „Kyrie“ und „Gloria“ sind Stimmen überliefert.
Beide Werkteile hat Bach dann allerdings in überarbeiteter
Form für die h-Moll-Messe wieder genutzt, doch sind hierfür
keine Stimmen überliefert. Da Bach normalerweise Artikulation,
Dynamik, Generalbassziffern u.a.m. in seinen Originalpartituren
nur spärlich einzutragen pflegte, diese aber dann bei der
Herstellung der Stimmen nachgetragen hat, sind die Partituren in
der Regel für aufführungspraktische Fragestellungen eher
zweitrangig. Zudem aber hatte Carl Philipp Emanuel Bach die Partitur
der h-Moll-Messe geerbt und das „Credo“ in Hamburg
selber aufgeführt. Zu diesem Zweck revidierte er dummerweise
die Partitur seines Vaters, mit dem Ergebnis, dass die Korrekturschichten
vieles von dem verbergen, was der Vater eigentlich anders hatte
haben wollen. Aufgrund des Tintenfraßes, dem Korrekturen
eine besonders gute Angriffsfläche bieten, lassen sich häufig
die Eintragungen des Sohnes nicht mehr von den ursprünglichen
unterscheiden und eindeutig dem ein oder anderen zuordnen. Rifkin
versucht nun dennoch, in allen Teilen den Originalzustand der autographen
Partitur wiederherzustellen. Diesem Versuch fallen zwar einige
Details der durch die Stimmen repräsentierten früheren
Fassung zum Opfer, doch lässt sich dieses Verfahren schon
allein deswegen rechtfertigen, weil Rifkin dergleichen Abweichungen
minutiös auflistet. Eine andere, vielleicht doch noch zufriedenstellendere
Lösung wäre gewesen, die Anweisungen aus den Stimmen
zu übernehmen, diese aber wie Herausgeberzusätze zu behandeln,
um so die beiden Schichten ohne Informationsverluste getrennt zu
halten. Dass möglicherweise nicht alle Änderungen C.P.E.
Bachs als solche erkannt worden sind, räumt der Herausgeber
ein; hier wären gewiss in Zukunft naturwissenschaftliche Methoden
wie etwa die Tintenspektralanalyse zielführend. Mit ähnlichen
Mitteln ließen sich wohl die Lesarten ante correcturam eindeutiger
erkennen. Insofern bleibt die gut lesbare und akribisch erarbeitete
Ausgabe Rifkins zwangsläufig immer noch einige Klärungen
schuldig. Kein geringerer als der Nestor der Bach-Forschung, Alfred
Dürr, erstellte den dazugehörigen Klavierauszug. Dieser
ist nicht immer ohne Mühen spielbar, was aber nicht an Dürr,
sondern an Bach liegt. Lediglich eine großzügigere Setzung
von Warnungs-Akzidentien wäre an manchen Stellen wünschenswert
gewesen.
Die Herausgeber der beiden anderen Messen hatten mit sehr viel
geringeren Problemen zu kämpfen. Das Quellenmaterial zur Schubert’schen
As-Dur-Messe erlaubte Peter Jost, ohne wirkliche Leseprobleme deren
zweite Fassung herauszugeben. Die erste Fassung hätte sehr
viel mehr Probleme bereitet, da manches durch Überschreibungen
in der Lesbarkeit beeinträchtigt ist.
Die Beethoven’sche Messe wurde ursprünglich als Band
der Beethoven-Gesamtausgabe von Jeremiah W. McGrann herausgegeben.
Ihm stellten sich vor allem Probleme beim Umgang mit der Orgelstimme,
die bei der Uraufführung benutzt wurde und die an einigen
Stellen reichhaltigere Angaben aufweist als die Stimme der Originalausgabe,
die ansonsten für die Konstitution des Notentextes mit Recht
herangezogen wurde. Da leider bis auf ein durchaus informatives
Vorwort der kritische Apparat fehlt, wird der ein oder andere Nutzer
wohl doch gezwungen sein, für nähere Informationen etwa
zu den Quellen oder einzelnen Lesarten in den entsprechenden Gesamtausgabenband
zu schauen. Alle drei Bände genügen höchsten philologischen
Standards bei gut disponiertem Notenbild.