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nmz
2008/04 | Seite 33
57. Jahrgang | April
Deutscher Musikrat
Offen für Grenzüberschreitungen und neue Märkte
Das Projekt „Zeitgenössische Musik“: Ein Interview
mit Kerstin Jaunich
Der Deutsche Musikrat versammelt auf seinem Internet-Portal derzeit
18 Projekte. „Zeitgenössische Musik“ heißt
eines von ihnen und ist damit nur sehr unzureichend beschrieben.
Denn hinter dem Begriff verbergen sich eine Reihe sehr vitaler
Aktivitäten, die gewissermaßen zum Ausgangspunkt allen
Musiktreibens zurück gehen, zur Förderung lebender Komponisten
und ihrer Werke. Kerstin Jaunich leitet das Projekt seit 2006;
mit der Kulturpädagogin und promovierten Musikwissenschaftlerin
sprach Susanne Fließ.
neue musikzeitung: Unter dem Dach „Zeitgenössische Musik“ versammeln
sich viele verschiedene Einzelprojekte: Konzerte, CD-Produktionen,
Diskussionsrunden, Praktisches und Theoretisches mit sehr unterschiedlichem
Charakter. Wie ist die verbindende Klammer? Kerstin Jaunich: Wir machen es uns zur Aufgabe, im Bereich der
zeitgenössischen Musik in Deutschland Initiativen zu starten,
um den Fokus auf bestimmte Themen zu richten, auch um Mängel
zu beheben. Das ist der Grund für die Heterogenität des
Projektes. Aber drei Bereiche sind tragende und traditionelle Säulen:
das „Konzert des Deutschen Musikrates“, die „Edition
Zeitgenössische Musik“ und die Aktivitäten im europäischen
Kulturaustausch mit Neuer Musik. Dazu kommen aktuelle und auf Zeit
angelegte Projekte wie jüngst „Neue Musik im Musikjournalismus“,
das wir gemeinsam mit dem LernRadio Karlsruhe umgesetzt haben.
Die Initiative hat große Wellen geschlagen und wartet auf
ihre Fortsetzung (siehe auch nmz, Ausgabe 12/07). Themen wie Neue
Musik in der Filmmusik oder im Bereich Kirchenmusik sind in der
Planung.
nmz: Mit welchen Partnern kooperiert
der Deutsche Musikrat oder berät sich, wenn es um die Förderung Neuer Musik geht? Jaunich: Unsere Partner sind zum Beispiel die
Rundfunkanstalten der ARD, die GEMA, GVL, Goethe-Institute, die
Gesellschaft für
Neue Musik und viele mehr. Im Gegensatz zu Interessensverbänden
für Neue Musik gilt unser Augenmerk der zeitgenössischen
Musik im Kontext des gesamten Musiklebens und innerhalb des Musikrates.
Wir fragen nach dem Stellenwert der Neuen Musik im kulturellen
Alltag.
nmz: Verändert sich mit verstärkten Präsentationen
von Neuer Musik im Konzertsaal auch das Publikum? Jaunich: Ich beobachte unterschiedliche Publikumstypen,
und Neue Musik hat gerade bei der scheinbar entferntesten Gruppe
die größte
Chance sie direkt zu erreichen: Hörer, die bislang zum „klassischen“ Konzertwesen
kaum Kontakt hatten, Kinder und Jugendliche oder das erwachsene
Publikum, das in erster Linie Popmusik hört. Dann nämlich,
wenn es um kreative und ästhetische Erfahrungen in praktischen
Musikprojekten geht
nmz: Das führt direkt zu dem DJ- und Composer-Meeting in Warschau „Turning
Sounds“, das offensichtlich eine Schnittstelle zum Pop bereit
hält. Jaunich: Kunstmusik im Grenzbereich Elektronik-Avantgarde
wird zum Teil mit gleichen Mittel, mit derselben Hard- und Software
produziert, wie sie in der DJ-Szene und dem Rock- und Popbereich
verwendet werden. Die Grenzüberschreitungen bei den Künstlern
sind sehr stark, und wir haben bislang einzelne Projekte wie „Turning
Sounds“ aufgreifen können. Ein großes Ziel ist
es, diese Strukturen zu verstärken. Es existiert im Bereich
Elektronikmusik eine bunte Szene, die auch vom Deutschen Musikrat
dokumentiert und unterstützt werden muss, damit diese Künstler
wirtschaftlich existieren können.
nmz: Es geht also auch um kommerzielle
Aspekte? Jaunich: Viele jungen Künstler, die aus der akademischen Komponistentradition
stammen, haben großes Interesse daran, Grenzen zur Popkultur
zu überschreiten und auch auf kommerziellem Sektor Märkte
zu finden. Die jungen Komponisten, mit denen wir im Zusammenhang
mit der „Edition Zeitgenössische Musik“ zu tun
haben, signalisieren deutlich, dass sie offen für Grenzüberschreitungen
sind oder sie sogar längst in ihrem Arbeitsalltag praktizieren.
Aber diese Querverbindungen sind eben erst gelegt, hier ist noch
viel zu tun. nmz: Eine der drei eingangs erwähnten Säulen
ist das „Konzert
des Deutschen Musikrates“. Muss man sich dort bewerben oder
wird man eingeladen?
Jaunich: Es ist ein Förderprogramm, bei dem man Anträge
stellen kann und soll, und Dank der Mitfinanzierung durch die GEMA
können wir vielen Ensembles und Veranstaltern helfen, Konzertprojekte
mit Wiederaufführungen von Werken nach 1980 zu realisieren.
Ich ermutige ausdrücklich Ensembles, Komponisten und Veranstalter
in ganz Deutschland, ihre Projekte vorzustellen. Auch wenn die
Fördersumme bei der Vielzahl der herausragenden Anträge
nicht immer hoch sein kann – sie reicht von 500 Euro für
kleine Projekte bis zu 10.000 Euro in Ausnahmefällen – so
hat das Siegel „Konzert des Deutschen Musikrates“ schon
einigen Veranstaltern geholfen, weitere Gelder zu akquirieren.
Für die kommende Jurysitzung wurden ungewöhnlich viele
Anträge eingereicht, was uns zeigt, dass das Konzept des Förderprogramms
angenommen wurde.
nmz: Das Projekt hat einen großen
didaktischen Anteil. Impulse und Ideen des zeitgenössischen
Komponierens sollen dem Publikum nähergebracht werden. Welchen
Charakter haben diese Konzerte? Jaunich: Im Grundsatz geht es um die Stärkung des Konzertlebens
mit Uraufführungen und Wiederaufführungen von Neuer Musik.
Dass diese Konzertformen auch aufgebrochen sein können, dass
es Wandelkonzerte geben kann, dass es vielleicht auch ein Internet-Konzert
sein kann, das ist alles möglich.
nmz: Die Veranstaltungsreihe „Klingt gut“ hat ebenfalls
didaktische Anteile. Sollen dort die Moderatoren dem ahnungslosen
Abo-Publikum unverständliche Kunst vermitteln? Jaunich: Die Veranstaltungsreihe fand bisher drei
Mal in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle statt und hat ein
wenig auch die Funktion
des Standortmarketings: Die Aufgaben des Deutschen Musikrates im
Bereich zeitgenössischer Musik sollen in Bonn und für
die Bonner sichtbar gemacht werden. Das nächste Konzert mit
dem Titel „Biotop der Klänge“ ist am 20. Mai mit
dem ensemble courage, moderiert von Christoph Biemann aus der „Sendung
mit der Maus“.
nmz: Wen dokumentiert die CD-Reihe „Edition Zeitgenössische
Musik“? Jaunich: Mit den bislang fast 70 CDs porträtiert die Reihe
seit 1986 Komponisten der zeitgenössischen Musik in Deutschland.
Jährlich wählt die Jury aus der Vielzahl der Bewerber
vier Komponist/-innen aus, die selbst entscheiden, welche ihrer
Werke auf der CD veröffentlicht werden. Damit wird die CD
zu ihrer Visitenkarte, die schon manchen Karrieresprung nach sich
gezogen hat. Das Auswahlgremium, das der Deutsche Musikrat als
Jury beruft, besteht aus Musikwissenschaftlern, Kompositionsprofessoren,
Rundfunkredakteuren und Festival-Veranstaltern, die unterschiedliche
Szenen der Neuen Musik in Deutschland kennen. Natürlich kann
die Auswahl der Komponisten für die „Edition Zeitgenössische
Musik“ immer auch nur einen Ausschnitt der derzeitigen Komponisten-Generation
darstellen. Auch bei der letzten Sitzung im Januar wurde wieder
viel und auch kontrovers diskutiert, bevor die Auswahl fest stand:
Saed Haddad, Gordon Kampe, Elena Mendoza López und Oliver
Schneller dürfen nun mit der Planung ihrer Porträt-CDs
beginnen, die voraussichtlich 2010 erscheinen.
nmz: Sorgen Sie denn auch für die technische
Realisierung deren Aufnahmen? Jaunich: Das kann durchaus sein. Zunächst schauen wir aber,
ob bereits geeignete Aufnahmen existieren. Die Rundfunkanstalten
der ARD sind dabei enge Kooperationspartner, die uns ihre Aufnahmen
zur Verfügung stellen oder eine Studioproduktion mit dem betreffenden
Künstler durchführen. Die „Edition Zeitgenössische
Musik“ könnte nicht existieren ohne die wunderbare Zusammenarbeit
mit den Rundfunkanstalten und mit WERGO.
Begleitet wird die Reihe seit letztem Herbst mit Unterrichtsmaterialien,
mit denen Musiklehrer die Möglichkeit haben, zeitgenössische
Musik im Unterricht zu thematisieren und Komponisten vorzustellen.
Das Material ist veröffentlicht auf der Internet-Seite www.abenteuer-neue-musik.de,
wo auch Video-Dokumentationen von nmzMedia zu finden sind. Nach
dem Schulprojekt zur CD von Markus Hechtle erarbeiten wir zur Zeit
das Material zu Carsten Hennig, dessen CD im April erschienen ist.
nmz: Schließlich gehört die Deutsch-Polnische Ensemblewerkstatt
zum festen Bestandteil Ihres Projektes. Ist denn eine Erweiterung
auch auf andere europäische Länder geplant? Jaunich: Die Polnisch-Deutsche Ensemblewerkstatt
für Neue
Musik entstand 2003 als ein gemeinsames Projekt des Deutschen Musikrates
und des Festivals Warschauer Herbst. Bereits 2007 konnten wir auch
erstmals ukrainische Musiker einbeziehen und ein Konzert in Lemberg
präsentieren. Für die Zukunft ist eine Ausweitung zu
einer „Europäischen Ensemblewerkstatt für Neue
Musik“ geplant, in der zeitgenössische Musik aus den
unterschiedlichen Ländern erarbeitet wird. In diesem Jahr
stehen Stockhausens „Hymnen“ auf dem Programm. Unter
der Leitung von Pedro Amaral werden im Herbst junge Musikerinnen
und Musiker aus Deutschland, Polen und Italien das Werk in Warschau,
Pforz-
heim und Mailand zur Aufführung bringen.