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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 38
57. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Wie viel Wirklichkeit darf es denn sein?
Humanity and Composition beim Forum neuer Musik im Deutschlandfunk
Nicht nur, was auf einem Festival geschieht, zuweilen bewegt
auch, was mit ihm geschieht. Dem Forum neuer Musik, das der Kölner
Deutschlandfunk traditionell an einem Frühjahrswochenende
ausrichtet, ist dies jetzt passiert. Anlass bot das Schlusskonzert
mit dem kanadischen Streichquartett Bozzini, ganz unabhängig
davon, dass dessen Diskurs über „Lüge und Identität“ die
Eintrittsschwelle neuer Musik merklich unterlief. Das im Niemandsland
zwischen Jazz, Pop und Folklore operierende Québecer Komponisten-Gespann
Joane Hétu und Jean Derome ließ seine Instrumentalisten
auf dem Podium herumspazieren, spielender- wie sprechenderweise.
Anders als Goethe es einst beobachten konnte, unterhielten sich
die Vier jedenfalls weniger mit sich und untereinander als jeder
mit sich selbst und einem allgegenwärtigen „bande
sonore“, dem Zuspielband.
Weit mehr abgewinnen konnte das Kölner Forum-Publikum dem,
was Deutschlandradio-Intendant Ernst Elitz zuvor in seinem
Grußwort für den anwesenden kanadischen Botschafter
ausgeführt hatte. Darin bekannte sich Elitz zur Verantwortung
des Senders, dem Kulturspektrum in seiner Gesamtheit gerecht
zu werden.
Gemeint war die Selbstverpflichtung der Anstalt, auch das Geschehen
an der kulturellen Peripherie mit gebührender Aufmerksamkeit
zu begleiten. Namentlich erwähnte Elitz die erfolgreiche Konzertreihe
Forum alter Musik und, aus gegebenem Anlass, eben das von Musikredakteur
Frank Kämpfer im siebten Jahr kuratierte Forum neuer Musik.
Mit anderen Worten: Die Zukunft der zeitgenössischen Musik
im Deutschlandfunk gewürdigt und (so darf man doch wohl
hoffen und schlussfolgern) gesichert. Zweifellos die wichtigste
musikpolitische Botschaft der Forum-Ausgabe 2008.
Solche Unterstützung kann ein „Werkstattfestival“ (Kämpfer)
wie das Forum neuer Musik im Deutschlandfunk gut gebrauchen, zumal
es keine Trends bedient, vielmehr auch das Ungesicherte, das künstlerische
Wagnis aus Überzeugung mitträgt.
In Zeiten, in denen Namen und Programme von Musikfestivals immer
marktgängiger, modischer und damit nichtssagender werden,
sorgte die in diesem Jahr mit „humanity & composition“ überschriebene
Forum-Ausgabe für einen gleich an der headline wahrnehmbaren
markanten Kontrapunkt. Vor dem Hintergrund einer zusehends durch
Markt und Ökonomie formierten Gesellschaft, erscheint das
Stichwort „Humanität“ plötzlich wie die Erinnerung
daran, was einmal selbstverständlich war und was sich nicht
nur in der Neunten oder bei Nono kompositorisch auskristallisiert
hat. Tempi passati?
Durchaus, möchte man antworten. Andererseits ist es doch so – und
dies zeigte auch die künstlerische Bilanz des Deutschlandfunk-Festivals –,
dass der kritische, auf Nichtidentität beharrende Impuls in
der Tonkunst (noch? wieder?) wach ist, auch wenn ihn niemand unter
einer Überschrift wie „Humanität und Komposition“ rubriziert
oder gar sein Werk damit etikettiert wissen will.
So sehr den Komponisten die Skepsis gegen die großen Worte
und Gebärden zur zweiten Natur geworden ist – eine unterirdische
Verbindung zu dem, was Kämpfer im Editorial als „Hauptintention“ herausstellt
(„Am Komponierten Entwürfe des Menschseins zu erkunden“)
ist spürbar. Es heißt nur anders. „Never real,
always true“ beispielsweise hat die Bonner Komponistin Charlotte
Seither ihren Forum-Beitrag überschrieben, zur Uraufführung
gebracht von der famosen Akkordeonistin Margit Kern.
Hier zugleich der krönende Abschluss eines von Intensität
und Sensibilität geradezu berstenden Soloabends, der
dank der Körperspannung der Interpretin ins instrumentale
Theater hineinreichte. Dass sich humanity in der composition letztlich
vor allem darüber zu vermitteln hat – dies war, wie
Musikwissenschaftlerin Nanny Drechsler im erstmals arrangierten
Roundtable anmerkte, die greifbarste Frucht eines Wort-Diskurses,
dem seinerseits anzumerken war, wie ungewohnt eine solche Thematik
auch für ausgewiesene Experten ist.
Das „Never real, always true“ (Seithers Adaption von
Antonin Artauds „Jamais réel et toujours vrais“)
erschien denn auch hier, im nachdenkenden Wortgefecht wie im kompositorischen
Zugriff, beinahe wie ein geheimes Festival-Motto.
Etwa im durch und durch hermetisch strukturierten Ensemblewerk „PRAHA:
celetnà – karlova – maiselova“ des sächsischen
Komponisten Jakob Ullmann, der seine Erinnerung an das Schicksal
der Prager Juden in eine linien- und gestenhafte, textunverständliche
Komposition übersetzte, hochskrupulös seinen Interpreten
von der Basler Musikhochschule „jede Form von Ausdruck oder
innerer Bewegung“ untersagte.
Wie sich mitteilen, ohne sich mitzuteilen?
Das Gegenbild dazu lieferte „Challumot“, die hochexpressive
Musik des israelisch-palästinensischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi
auf Gedichte der im Holocaust umgekommenen Selma Meerbaum-Eisinger.
Die mit der Faust komponierte, an ekstatischen Xenakis erinnernde
Musik, stellt das Wort der Dichterin ins Zentrum, verlangte vom
Tenoristen Gunnar Brandt-Sigurdsson die ganze Palette der Ausdrucksmöglichkeiten.
Der Schmerz soll Klang werden – anders als in der mit dem
Schrecken nur spielenden Klanginstallation des studierten Medienkünstlers
Christoph Korn, der ein „Waldstück“ aus der Nähe
Dachaus tönen und ‚vertönen‘ lässt.
Auch hier ein striktes „Never real, always true“! Nur – wie
viel Wirklichkeit darf es sein? Wie viel Wahrheit muss es sein?
Der Diskurs geht weiter.
Georg Beck
Ausführlicher Festivalbericht demnächst als Videostream
unter www.nmzmedia.de