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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 41
57. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Technik, Wissenschaft und Neue Musik
Zum sechzigjährigen Bestehen des Instituts für Neue Musik
und Musikerziehung Darmstadt (INMM)
Das Institut für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt
veranstaltete vom 26. bis 29. März 2008 seine 62. Frühjahrstagung.
Diese traditionsreiche Veranstaltung bietet jährlich Komponisten,
Musikern, Musikpädagogen, Musikwissenschaftlern und Philosophen
ein Forum für eine vielseitige Auseinandersetzung mit Neuer
Musik – in diesem Jahr unter dem Gesichtspunkt: „Spannungsfelder.
Neue Musik im Kontext von Technik, Natur und Wissenschaft“.
Den Auftakt zur Tagung bildete die „Stadtmusik“ (Bespielung
des öffentlichen Raums) der Jugend-Musik-Werkstatt Kaiserslautern
und des Ensembles Darmstädter Improvisierte Musik (DIM) sowie
der Festakt samt Festkonzert zum 60-jährigen Bestehen des
INMM.
Freejazz
fürs Festkonzert (v.li.): Jacques Demierre, Urs Leimgruber
und Barre Phillips. Foto: Andreas Kolb
Drei Tage lang Neue Musik, Spannungen, Natur, Wissenschaft, Technik – welche
Erkenntnisse ermöglicht solch eine Tagung? Obwohl in der gesamten
Musikgeschichte mathematische Proportionen, instrumentale Technik,
Imitation von Naturlauten und ähnliches immer wieder eine
Rolle spielten, ist gerade für die Neue Musik, bedingt durch
die rasanten technischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts (Reproduzierbarkeit
durch Aufnahmetechnik, elektronisches Instrumentarium, Computerprogramme
als Kompositionswerkzeug et cetera), der Kontext von Technik, Natur
und Wissenschaft von besonderer Bedeutung.
Das Verhältnis von Technik, Natur und Wissenschaft zur beziehungsweise
in der Neuen Musik prägt sich unterschiedlich aus, als symbiotisches
Miteinander, als konkurrierendes Gegeneinander, als sich ausschließende
Parallelwelten, als Vorherrschaft eines Elements über die
anderen. Die Spannungsfelder, von denen im Tagungsthema die Rede
war, entstehen für den Komponisten, den Instrumentalisten,
den Hörer im Umgang mit diesem Verhältnis: Wie viel Einfluss
nimmt der Komponist auf die verwendete Technik? Was von den Strukturen,
was von der Natur ist hörbar? Wie frei, wie vorherbestimmt,
wie (un-)konkret ist der musikalische Verlauf?
Viele der diesjährigen Vorträge gaben einen Einblick
in „Kompositionswerkstätten“, stellten Kompositionsprozesse
vor und beantworteten diese Fragen auf unterschiedliche Weise.
Peter Hoffmanns Erläuterungen zu Iannis Xenakis’ Programm
GENDYN gaben Beispiel für eine autonom funktionierende und
Stücke generierende Technik. Die Computersimulationen, die
Gerhard E. Winkler als Grundlage für Kompositionen verwendet,
sind dagegen dynamische Systeme, die offen gegenüber der Umgebung
sind und nicht technisch starr agieren. Dem gegenüber wirken
Martin Riches’ Apparaturen (zum Beispiel flute machine, talking
machine, thinking machine) als rein mechanische Klangerzeuger kurios
und altertümlich. Die komplexe Mechanik übt an sich eine
besondere Faszination aus, die zum Beispiel vom Komponisten Roland
Pfrengle in talking machine als Vermenschlichung der Maschine eingesetzt
wird. Oliver Schneller veranschaulichte die Möglichkeiten
des Umgangs mit akustischen Modellen in der spektralen Musik und
die unterschiedlichen Grade von sowohl kompositionstechnischer
als auch hörbarer Nähe und Differenz zum Modell (Nachahmung,
Analogienbildung, Ableitung abstrakter Strukturprinzipien).
Harry Lehmanns Warnung vor einer zunehmenden technischen Virtuosität
und Banalität, vor einer Technik als Selbstläufer, mag
vielleicht im großen Musikbetrieb seine Berechtigung haben,
bei den in Darmstadt anwesenden Komponisten zeugte der bewusste
und feinfühlige Umgang mit Technik und Wissenschaft jedoch
eher vom Gegenteil. Orm Finnendahls Ausführungen zu seinem
Werk „Versatzstücke für Klavier und 6-Kanal Zuspielung“ legten
die Strukturen bis auf den Grund offen – ein simples graphisches
Bild aus Punkten und Strichen – und zeigten die technische
Entstehung des Stücks durch Kopien, Überlagerungen und
Variation dieses Bildes auf. Dem Vorwurf der Technik als Selbstläufer
setzt Finnendahl die Verantwortung und das Gespür des Komponisten
für die richtige Auswahl entgegen.
Dem Aspekt Natur wurde auf der Tagung vergleichsweise wenig Platz
eingeräumt. Volker Staub stellte eine Klanginstallation von
Leif Brush vor, in der mikroskopisch feine Klänge des Winds
verstärkt hörbar gemacht und bearbeitet werden und per
Internet auf der ganzen Welt als „Echtzeit-Energiebewegung“ der
Erde abzurufen sind. Ganz anders als in dieser aufwändigen
Verbindung von Natur und Technik geht Stephan Froleyks mit den
natürlichen Gegebenheiten und klanglichen Eigenschaften von
Material um und baut sich eigene Instrumente (zum Beispiel Zinkwanne
mit Saiten, Messertisch, geschweifte Tuba), die er zunächst
improvisatorisch erkundet, um sie dann entsprechend ihrer spezifischen
Qualitäten kompositorisch einzusetzen.
Einige dieser Instrumente waren dann auch im Konzert zu hören,
das sich, wie auch die übrigen abendlichen Konzerte, als wohltuende
Anbindung an die musikalische Realität erwies – sie
ließen Zeit für die Wahrnehmung der Musik, die manch überraschende
Wendung in heiß diskutierte Themen bringen konnte. In diesem
Zusammenhang erschien auch Wolfgang Lessings Vortrag über
die Diskrepanz zwischen den Erkenntnissen der Hirnforschung, die
von der Ausbildung eines Strukturnetzes im Gehirn ausgehen, das
alle Reize nach vertrauten und vorhandenen Mustern strukturiert
und einordnet, sehr aufschlussreich in Bezug auf das Erleben des
Neuen in der Neuen Musik. Die Begegnung mit dem eigenen Wahrnehmungsvorgang,
die gerade bei unbekannter, neuer Musik stattfindet, besitzt unabhängig
vom strukturellen „Verstehen“ der Musik einen Eigenwert.
Dieser Eigenwert der Wahrnehmung war auch in der Vorführung
wissenschaftlicher Filme, die musikalisch unterlegt wurden, zu
erfahren. Ich nehme an, die wenigsten konnten einer martensitischen
Umwandlung in Kupferlegierungen oder Tantalhydrid Phasenübergängen
mit dem Verstand folgen – die Bilder und Fügungen zusammen
mit der Musik waren dennoch eindrücklich.