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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 40
57. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Aus den Archiven in die Gesellschaft
Internationale Konferenz zu Auswirkungen des Naziregimes auf
die Musik
„Eine Wissenschaft, die ihr Wissen nicht in die Gesellschaft
schafft, missachtet ihre gesellschaftliche Bringschuld und ist
am Ende mit schuld, wenn die Gesellschaft sie um ihre Mittel bringt.“ Dieses
prägnante Zitat des Romanisten Ottmar Ette zur gesellschaftlichen
Verantwortung der Geisteswissenschaften hat selten mehr Gewicht
als im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des Holocausts.
Bei
der Eröffnungssitzung der Londoner Konferenz tauschen
Angehörige von im Dritten Reich verfolgten Komponisten
ihre Erinnerungen aus: v.l.n.r.: Eva Fox-Gál (Tochter
von Hans Gál), Andrea Rauter (Tochter von Ferdinand
Rauter), Daniel Snowman (Autor von „The Hitler Emigrés“),
Tanya Tintner (Witwe von Georg Tintner), Julia Seiber Boyd
(Tochter von Mátyás Seiber). Foto: Gehring
Die Konferenz zu den Auswirkungen des Naziregimes auf die musikalische
Entwicklung im 20. Jahrhundert, welche im April in London stattgefunden
hat, hat diese gesellschaftliche Verantwortung erkannt. Sie zeigte
zahlreiche Impulse auf, die Erkenntnisse der musikwissenschaftlichen
Holocaustforschung einem nichtakademischen Publikum zugänglich
zu machen, etwa durch Filme, Ausstellungen, Konzertreihen mit thematischem
Fokus, Internetseiten und natürlich didaktische Arbeit an
Schulen und Musikschulen.
Veranstalter der Konferenz waren das JMI International Centre
for Suppressed Music und das seit 2006 aktive Institute of Musical
Research der University of London. Inhaltlich verantwortlich zeichneten
Erik Levi, der mit seinem Buch Music in the Third Reich (1994)
ein Standardwerk dieses Forschungsfeldes vorgelegt hat, sowie Michael
Haas, der durch die preisgekrönte CD-Serie Entartete Musik
(Decca) etliche Werke von im Dritten Reich verfolgten Musikern
ins Repertoire reimportiert hat.
Den 43 Vorträgen von Wissenschaftlern von vier Kontinenten
war zunächst eine Präsentation der Musikarchive vorangestellt,
die etwa Tagebücher, Briefwechsel und Notenhandschriften von
verfolgten Musikern verwalten, darunter das Konservatorium Schwerin,
die British Library (London), die Music Jewish National and University
Library (Jerusalem) und das US Holocaust Memorial Museum (Washington
D.C.). Vorbildhaft ist Volker Ahmels’ Engagement für
den Wettbewerb „Verfemte Musik“, welcher meist unverlegte
Werke aus den Archivregalen aufs Konzertpodium bringt und für
dessen diesjährigen Durchgang sich junge Musiker bis zum 15.
Juli anmelden können. Die lebhaften Berichte von Familienangehörigen
der im Dritten Reich verfolgten Komponisten Hans Gál, Ferdinand
Rauter, Mátyás Seiber und Georg Tintner, charmant
moderiert von BBC-Journalist und Buchautor Daniel Snowman, brachten
die bei diesem Thema so notwendige menschliche Komponente in die
akademische Diskussion ein.
Der viertägigen Konferenz schloss sich die zweitägige
Konzert- und Veranstaltungsreihe Music in Exile in der Cadogan
Hall an. In seinem Vortrag über das innere Exil warf Albrecht
Dümling höchst aufschlussreich Licht auf jene Komponisten,
die zwar nicht auswanderten, aber sich dem Dritten Reich verweigerten
und in den harmlosesten Fällen schwere berufliche Einbußen
hinnehmen mussten. Diese biographischen Schicksale aufzuarbeiten
ist die Aufgabe der Exilmusikforschung. Das an den Vortrag anschließende
Konzert mit Werken von Komponisten des inneren Exils, Philipp Jarnach,
Heinz Tiessen und Walter Braunfels, illustrierte den hohen musikalischen
Wert ihrer Kompositionen und appellierte an dieVerantwortung der
Konzertprogrammgestalter, dem Unrecht des Vergessens eine umfassende
Kanonrevision entgegenzuhalten.