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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 10
57. Jahrgang | Mai
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Kulturtechnik
Früher war noch die Rede von Maltechnik und Kompositionstechnik,
doch seit alles in der Welt Kultur ist, sind solche Bezeichnungen
im Begriff Kulturtechnik aufgegangen. Und da zur Welt auch die
Unterhose und ihr Inhalt gehört, muss selbstverständlich
auch von einer Kulturtechnik der Unterleibsorgane gesprochen werden.
Genau dieser Aufgabe unterzieht sich im Zusammenhang mit einem
Buch der Autorin Charlotte Roche derzeit das deutsche Feuilleton.
Es geschieht mit akribischer Gründlichkeit, denn Aufklärung
kennt bekanntlich keine Tabus.
Die Süddeutsche Zeitung klärt in diesem Zusammenhang über
die Kulturtechnik der Körperbehaarung auf: „Weibliches
Achselhaar, unschuldig getragen, transportiert daher eine subtile,
aber erschreckende Botschaft: schlechter Sex, gefolgt von sofortiger
Schwangerschaft. Das bewusst getragene weibliche Achselhaar dagegen
bedeutet das genaue Gegenteil, nämlich eine besonders intensive,
ja obsessive Beschäftigung mit Sex und Lust.“
Bekanntlich lassen sich einmal gemachte Erkenntnisse nicht mehr
rückgängig machen, handle es sich nun um Atome oder Achselhaare.
Da stellt sich die Frage: Wie verhalte ich mich angesichts dieses
Aufklärungsprozesses, der die letzten bislang im Dunkeln gehaltenen
Körperzonen ins helle Licht der Öffentlichkeit holt?
Muss Mann sich nun in Frau Roches Buch über die Kulturtechnik
des weiblichen Geschlechtsorgans informieren, um endlich zu wissen,
wie es geht? Muss Frau in der U-Bahn bei ihrem männlichen
Gegenüber feststellen, ob er links oder rechts trägt,
um sein Aggressionspotenzial einzuschätzen?
Die Unterhose ist zu einem unerschöpflichen Quell der Erkenntnis
geworden. Das haben nicht nur unsere Theaterregisseure erkannt.
Auch fleißige Musikwissenschaftler und -innen haben längst
gemerkt, wie öffentlichkeitswirksam es ist, wenn sie sich
den Objekten ihrer Begierde nicht nur über den üblichen
biografischen und werkbezogenen Papierkram nähern, sondern
ihnen ganz direkt zu Leibe rücken, etwa mit dem Blick in besagtes
Kleidungsstück. Was natürlich – Fluch der Sekundärwissenschaft – in
den meisten Fällen auch wiederum nur symbolisch, über
papierene Dokumente und nicht durch praktische Feldforschung geschehen
kann. Auf dem Weg über die sexuelle Ausrichtung erhoffen sie
sich offenbar Aufschlüsse über die Ästhetik eines
Komponisten.
Als vor einigen Jahren eine amerikanische Musikologin Beweise
für
Händels Homosexualität glaubte gefunden zu haben, wurde
das von deutschen Muwis im Internet als bedeutendes Ereignis gefeiert.
Dabei erbringt eine solche Schnüffelei bei einem toten Komponisten
ebenso viel Erkenntnisse über das Werk wie die Feststellung,
Beethoven habe bei der Arbeit an der Neunten durchschnittlich ein
halbes Glas Heurigen am Tag mehr getrunken als sonst.
Wenn schon, dann wäre es sicher weniger spekulativ, solche
Fragen in Bezug auf lebende Komponisten zu stellen. Man müsste
keine detektivischen Forschungen anstellen, da es erstens genügend
Fälle gibt und zweitens viele von ihnen vermutlich auch auskunftsbereit
wären; Hans Werner Henze etwa hat das schon vor über
zwanzig Jahren in einem Filmporträt getan. Doch sie möchten
dieses Thema, das im Grunde genommen nur sie etwas angeht, sicher
nicht auf dem Marktplatz verhandeln.
Und das ist denn auch der Haken bei diesem wie auch immer wissenschaftlichen
Interesse an der Intimsphäre anderer Menschen, ob Künstler
oder nicht.
Es geht eben nicht einfach um Fallstudien von angeblich öffentlichem
Interesse, sondern es handelt sich immer auch um Menschen mit einem
Recht auf Privatheit. Ein toter Händel kann nicht mehr Einspruch
erheben. Aber ein lebender Komponist würde sich zu Recht dagegen
wehren, von jedem/jeder Spießbürger/-in unter wissenschaftlichem
Vorwand auf seine privaten Neigungen durchleuchtet zu werden. Der
Schriftsteller Maxim Biller versuchte gegen den Willen der Betroffenen
etwas Ähnliches, wofür sein Buch verboten wurde. Hier
stößt, was heute unter den ohnehin depravierten Begriff
der Aufklärung fällt, auf seine Grenzen.
Dafür gibt es nun auch die Brüsseler Antidiskriminierungsgesetze.
Aber wer sie bloß als zivilisatorischen Fortschritt betrachtet, übersieht
etwas Wesentliches: Moralisches Verhalten, eine Fähigkeit
des Individuums, wird damit von einer Megabehörde geregelt,
der Verlust der für das Zusammenleben in der Gesellschaft
unverzichtbaren Scham und des Respekts vor dem anderen durch Paragraphen
wettgemacht.
Strafandrohung mag als letzte Option richtig sein, hält aber
den Zerfall des Individuums nicht auf. Die aktuelle Feuilletondebatte
ist dafür ein Indikator. Hier wird niemand diskriminiert,
sondern nur munter Exhibitionismus im Medium der Sprache getrieben
und ganz nebenher die öffentlichen Hemmschwellen auf ein Niveau
gesenkt, das Andere einmal auf ganz untheoretische Weise für
sich nutzen werden. Im Setzen von Fortschrittsmarken sind die Kulturtechniker
groß, doch von Technikfolgenabschätzung scheinen sie
noch nichts gehört zu haben.