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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 9
57. Jahrgang | Mai
Cluster
Alles nur Berechnung
In dem Buch „Herr Balaban und seine Tochter Selda“ erzählt
der Autor Martin Auer die Geschichte von einem Dorf, das bekannt
ist für seine Rechenkünste. Die Bewohner dort leiden
darunter, dass sie ihr Wasser täglich von einem weit entfernten
Bach herholen müssen. Da wird ein Bauer dieses Dorfes gefragt,
warum sie denn nicht einfach einen Kanal bauten. Das würde
zwar zunächst einen größeren Aufwand bedeuten,
schließlich aber doch eine Vereinfachung des Lebens nach
sich ziehen. Der Bewohner rechnet dem Fragenden dann vor, wie lange
es dauerte, welche Dinge zu erledigen seien. Am Ende werde der
Bau aber scheitern, weil sich die Bewohner nicht beteiligen werden
und damit in der Folge und auf Dauer niemand mehr am Kanal mitarbeiten
werde: „Du wirst zugeben, wenn der Kanal einmal gegraben
ist, wird jeder von dort Wasser holen können, egal, ob er
sich an den Arbeiten beteiligt hat oder nicht … Also hätte
jemand, der sich vor der Teilnahme an der Arbeit drückt, denselben
Nutzen wie alle anderen, aber ohne die Kosten.“ Es sei also
vollkommen sinnlos diesen Kanalbau in Angriff zu nehmen. Auf den
Hinweis, dass es ein anderes Dorf mit dem gleichen Problem gäbe,
dass allerdings schon seit 20 Jahren im Besitz eines solchen Kanals
sei, antwortet der Bauer: „Ja, die können aber auch
nicht rechnen.“
So ähnlich will es einem schon mal erscheinen, ist es auch
um die Kultur in engeren wie weiteren Rahmen bestellt. Vieles,
was möglich wäre, was das Leben auch einfacher machen
könnte, wird nicht in Angriff genommen aus der Furcht heraus,
es könne jemand daran partizipieren, der keinen Beitrag zum
Aufbau oder Erhalt eines kulturellen Selbstverständnisses
geleistet hat. So ist es eine Frage der Zeit, dass ein Buch veröffentlicht
wird, das einem „100 ganz legale Kulturtricks“ verkauft
oder vom Bundesverband der Musikindustrie ein „Leitfaden
für Abmahnungen für illegale Musiknutzung“ erscheint.
Die gesellschaftliche Wirkungsmacht solcher Verbände steht
allerdings krass im Gegensatz zur vielfach ehrenamtlich geleisteten
Arbeit im kulturellen Bereich, die gewöhnlich im Stillen vor
sich geht. Viele kleine produktive Gräben allerorten, wo die
großen Kulturbauern im Rahmen ihrer Businesspläne und
Strategiepapiere längst Opfer ihrer Angst geworden sind und
ihren Megakanal ins kulturelle Sibirien berechnen.