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2008/05 | Seite 12
57. Jahrgang | Mai
Ferchows Fenstersturz
Das große Nichts
Sicher. Es gibt verhinderte Menschen, gerne Philosophen genannt,
die sich intensiver mit dem Nichts auseinandersetzten als ich.
Beziehungsweise mit dem Alkohol. Doch längst habe selbst
ich begriffen, dass der Popkosmos mittlerweile ausschließlich
aus Nichts besteht. Wahrscheinlich sogar diese Kolumne. Es gilt
beharrlich aus Nichts ein größeres Nichts zu machen.
Das in Wichtigkeit gipfelt. Das Popgeschwür hängt am
Tropf der Langeweile. Weil von depressiven Anwälten und
aufgeregten Praktikanten geführt. Biss früher Ozzy
Osbourne wenigstens noch einer Taube den Kopf ab oder betrieb
Frank Farian mit zwei Hüpfdolen und Playbacksongs Menschenhandel,
so gibt es heute schlicht nichts mehr vom Pop zu berichten. Außer,
dass Amy „Brandy“ Winehouse ihren Drogenkonsum – vermutlich
unter medizinischer Aufsicht – nach langem Kampf endlich
justiert hat. Laut ärztlicher Doktrin sind morgens,
mittags und abends zwei Lines erlaubt. Einzunehmen vor dem Essen
und mit Alkohol. Dem dürfte ja nichts im Wege stehen.
Bleibt noch das andere, kolossale Nichts in Frankfurt. Die Musikmesse.
Sie war wie seit Jahrzehnten wieder skandalös gut besucht.
Die Auftragsbücher waren voll. Oder die Auftraggeber. Und
wer in Ackermann-City keine Schrottware aus China im Container
und zum debakulösen Dollarkurs erwarb, der knüpfte platonische
Synergien zwischen Kultur, Berichterstattung und „musical
spirit“. Was nichts anderes heißt, als zehn Jahre Unverbindlichkeiten,
Konferenzen und Spesenabschreibungen zwischen Medien, Initiativen
und Vereinen (natürlich e.V.). Der Fortschritt wird dort allerdings
gepflegter niedergebügelt als in Tibet. Die schlichte Formulierung „Lass
uns telefonieren“ beschützt den Stillstand für
das nächste Jahrzehnt.
Und zuletzt, das gewaltigste Nichts aus dem östlichen Nichts:
Tokio Hotel. Sänger Bill Kaulitz musste sich einer Stimmband-OP
unterziehen. Empörend, dass man überhaupt glaubt, das
Mädchen hätte je live und selbst gesungen. Aber die Meldung
ohne Gehalt wird zur Sternstunde des Nichts. Der Produzent der
Band darf ins Rampenlicht treten und verkünden, dass der Operierte
außer „1, 2 und 3“ nichts zu sagen hätte.
Dabei drängt sich der Verdacht auf, die Operation wäre
eine Präventionsmaßnahme für Monsieur Kaulitz‘ Wehrdienst.
Eine tiefere Stimme könnte die Kameraden im Gegensatz zur
Frisur beschwichtigen. Und beim Make-up könnte der Barde selbst
dem Hauptmann der Kompanie noch Tarn-Tipps bezüglich der Nachtübung
im grünen Gelände geben. Angenehmer wäre es jedoch
für ihn, Zivildienst abzuleisten. Wenn die nette Omi ihm dann
einen Zehner zusteckt und höflich fragt, „Junges Fräulein,
könnten Sie bitte meinen Darm spülen?“, kann ich
Bill aus eigener Erfahrung beruhigen: Nichts wird so heiß gegessen,
wie es gekocht wird.