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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 6
57. Jahrgang | Mai
Magazin
Wir bekommen keine Dauerlutscher geschenkt
In Essen beginnt die Philharmonie in diesem Jahr ihre fünfte Spielzeit – Intendant
Michael Kaufmann im Gespräch
Als die Philharmonie Essen vor vier Jahren ihren Spielbetrieb aufnahm, waren
die Erwartungen auf allen Seiten natürlich hoch: Würden die Essener
und darüber hinaus die Kulturfreunde der Region das neue Haus annehmen?
Wäre der Nachweis zu erbringen, dass die Entscheidung für eine Rekonstruktion
des alten Saalbaus die richtige war? Sowohl für den Bau der Philharmonie
als auch für die Startphase ihrer Bespielung wurde eine Menge Geld in
die Hand genommen. Allein 26 Millionen Mark hatte die Alfried Krupp von Bohlen
und Halbach-Stiftung zur Eröffnung des Hauses bereitgestellt. Wie würde
es nun gelingen, den Enthusiasmus aller Beteiligten lebendig zu halten?
Eine Zahl, ganz zu Beginn, spricht für sich: Ende Januar begrüßte
der Intendant den 888.888 Besucher in seinem Haus! Und jetzt wird die Philharmonie
Essen als erstes Konzerthaus mit dem Preis „Bestes Konzertprogramm des
Jahres“ für 2007/08 ausgezeichnet. Dieser Preis war bisher immer
nur Orchestern vorbehalten.
Im Gespräch mit der nmz zeigt Intendant Michael Kaufmann den Weg bis
hierher und die bevorstehende Strecke auf.
neue musikzeitung: Herr Kaufmann, die Philharmonie startet 2008 in ihre
fünfte
Saison. Sie beschrieben damals zur Eröffnung zwei Erwartungshaltungen,
die an die Philharmonie bestanden: die der Musikenthusiasten, denen Ihre Ankündigung
von großen internationalen Orchestern und Solisten besonders verheißungsvoll
erschien, und die, dass bei allem internationalen Profil des Hauses die Integration
lokaler und regionaler Künstler nicht vernachlässigt wird. Wie würden
Sie dieses Verhältnis im fünften Jahr der Philharmonie Essen beschreiben? Michael Kaufmann:
Insgesamt kann man nur sehr glücklich mit der Entwicklung
der ersten vier Jahre sein. Sowohl im Klassikbereich als auch, was mich sehr
freut, auf dem Gebiet des Jazz konnten wir die bedeutenden Künstler unserer
Zeit bei uns begrüßen. Ich hatte damals nicht zu hoffen gewagt,
dass wir in so kurzer Zeit in beiden Bereichen eine solche Reputation erlangen
würden. Zugleich ist uns, wenn auch mit etwas größerem Aufwand,
die Integration der regionalen Klangkörper, der Orchester aus Duisburg,
Dortmund, Wuppertal, Bochum und dem ChorWerk Ruhr im Prinzip gelungen. Das
klingt jetzt vielleicht eine Spur zu negativ, weil ja der erfolgreiche Mahler-Zyklus
der Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane mindestens ebenso gefeiert wird,
wie Konzerte von internationalen Orchestern. Aber es gibt schon Stolpersteine,
wenn man ein Orchester, das mit seinem eigenen Publikum und eigenem Haus nur
dreißig Kilometer entfernt ist, auch noch in Essen präsentieren
und verankern will. Trotz der Schwierigkeiten gibt es für mich keine Alternative:
die Philharmonie ist das Zentrum der Musik im mittleren und westlichen Ruhrgebiet
und deshalb sollen sich auch die Klangkörper der Region hier wiederfinden.
Posieren
im Gehölz: Dirigent Kurt Masur (2.v.li.) und Philharmonieintendant
Michael Kaufmann. Foto: Klaus Rudolph
nmz: Geht denn das ohne Reibung mit den angestammten
Häusern vor sich?
Gibt’s da kein „Störfeuer“, beispielsweise aus
Dortmund? Kaufmann: Nein, eigentlich nicht. Die Kooperationspartner
sind ja die Orchester selbst. Wenn es jetzt in Bochum schon ein Haus
gäbe, und man wäre
dort auch um ein eigenständiges Programm bemüht wie wir in Essen,
dann würde sich die Frage der Kooperation schon ganz anders stellen.
Dann hätten die Bochumer Symphoniker wohl auch kaum Interesse, ihren kompletten
Mahler-Zyklus bei uns zu spielen. Und das Konzerthaus Dortmund ist durch unsere
Einladungen an die Dortmunder Philharmoniker nicht betroffen, weil das Orchester
höchstens zweimal im Jahr zu uns kommt. Mich würden „Störfeuer“ aber
auch nicht irritieren, denn meinen Versuch, dass ich die durch Stadtgrenzen
bestehenden Friktionen in der Wahrnehmung kultureller Angebote durch unser
Programm wenn schon nicht auflöse, dann wenigstens in Frage stelle, würde
ich nicht aufgeben.
nmz: Aber geht die Philharmonie Essen mit solchen
Engagements nicht erhebliche Risiken ein? Kaufmann: Ja, wir übernehmen zugunsten dieser städteübergreifenden
Partnerschaften ein großes Risiko und finanzieren die Defizite der Konzerte.
Mir war es von Anfang an wichtig, dass die Diskussion solcher Zusammenarbeit
sich nicht am Geld festmacht, sondern an den zu entwickelnden Zukunftsoptionen
der Region. Das ist ja letztlich eine der bedeutenden Aufgaben, die uns aufgetragen
wurden. Und da ist der Mahler-Zyklus der Bochumer wirklich eine der großen
Erfolgsgeschichten – wenn die Bochumer Symphoniker quasi „DAS“ Sinfonieorchester
der Region sind und in zwei „Heimstätten“ in Dortmund und
Essen erfolgreich spielen, dann könnte man sich schon die Frage
stellen, ob ein weiteres Haus in Bochum und damit genau dazwischen
erforderlich und
sinnstiftend ist.
nmz: Für das Eröffnungsjahr konnten Sie mit einem Zuschuss von 3,4
Millionen Euro rechnen, um die geplanten Veranstaltungen und die grundsätzlichen
Dienstleistungen des Hauses zu finanzieren. Die Entscheidung über diese
Summe ersparte Ihnen seinerzeit eine voreilige und unproduktive Diskussion
darüber, ob das Haus im kommerziellen Sinne erfolgreich sei. Inzwischen
sind vier Jahre vergangen. Konnte Ihr Haus sich in dem reichen Kulturangebot
dieser Region etablieren? Kaufmann: Als wir diese Zahl mit der Stadt diskutiert
haben, ahnte ich nicht in meinen kühnsten Träumen, in
welch kurzer Zeit die Philharmonie ein so herausragendes Programm
würde entwickeln können. Da haben
uns viele wunderbare Künstler durch ihre Programm-Vorschläge
unbeschreibliche Geschenke gemacht! Die in den vier Jahren seit
der Eröffnung realisierten
Konzertprogramme hätten wir allerdings ohne ganz erhebliche
Stiftungs- und Sponsormittel niemals machen können. Bis jetzt
haben wir in keiner Saison weniger als eine dreiviertel Million
Euro, in der Spielzeit 2008/09
sogar eine Million Euro eingeworben, was mich sehr glücklich
macht und bestätigt, dass dieses Essener Konzerthaus mit seinem
vielgesichtigen Programm unverzichtbar für die Region ist.
Die Stadt Essen leistet einen bedeutenden und unverzichtbaren Beitrag
durch die Basisfinanzierung des Programms – wenn
man aber ein so tolles Programm haben möchte, muss der Intendant
des Hauses unvermeidlich ein erhebliches Risiko auf die Philharmonie
laden, bis er die
erforderlichen Mittel akquiriert hat. Blieben die Sponsoren- und
Stiftungsgelder aus, hätte dies dramatische Folgen.
nmz: Können Sie sich noch, wie vor vier Jahren, relativ gelassen
an die Planung machen? Kaufmann: Nein, leider nicht, denn wir haben heute
eine geringere Zuwendung durch die Stadt Essen als zur Eröffnung. Das ist insbesondere deshalb
problematisch, weil nun die schwierige Phase der Verfestigung und Stabilisierung
des Hauses erfolgen muss. Wir haben im Budget für Marketing/Werbung 300.000
Euro weniger als in den ersten beiden Spielzeiten – bedenkt man, dass
wir mehr als 60 Prozent unserer Eintrittskarten nicht im Abo-, sondern im Einzelkartenverkauf
absetzen müssen, dann ist dies mit dem Wort dramatisch noch untertrieben
beschrieben.
nmz: Sind Stiftungs- oder Sponsorengelder überhaupt planbar? Wissen Sie
immer, mit wie viel Geld Sie rechnen können? Kaufmann: Es gibt wunderbarerweise zwei berechenbare
Stiftungen: Die Sparkasse Essen hat eine eigene Philharmonie-Stiftung
gegründet, deren Zinserträge
ausschließlich uns zur Verfügung stehen und mit denen wir planen
können. Zudem hat sich die „Kulturstiftung Essen“ verpflichtet,
der Philharmonie zunächst bis 2011 bestimmte Mittel kontinuierlich zur
Verfügung zu stellen. Ohne diese beiden Stiftungen wären meine Träume
für unsere Programme niemals so sehr „in den Himmel“ gewachsen.
Und dann gibt es den großen Kreis anderer, die man jedes Mal neu gewinnen
muss. Dazu gehören zum Beispiel in der kommenden Saison die Alfried Krupp
von Bohlen und Halbach-Stiftung, die National-Bank AG und MAN Ferrostaal. Toll
ist jetzt für die kommenden vier Jahre natürlich auch die Förderung
durch das „Netzwerk Neue Musik“ von der Kulturstiftung des Bundes,
was insbesondere auch unsere Komponisten-Residenzen abzusichern hilft. Andere,
wie etwa die Kunststiftung NRW, entscheiden jeweils im Einzelfall – da
stellt uns niemand einen Dauerlutscher zur Verfügung!
nmz: Man muss sicher davon ausgehen, dass allein
aus dem Haushalt der Stadt Essen das Programm nicht zu realisieren wäre. Worauf ich hinaus möchte,
ist das Verhältnis von Mitteln der öffentlichen Hand und dem privaten
Sponsoring. Sie beschrieben die großzügige Unterstützung durch
die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung zur Eröffnung des Hauses
auch als eine Initialzündung für die vielen Unternehmen der
Stadt und der Region. Wie viel ist die Philharmonie ihnen allen heute
wert? Kaufmann: Die Philharmonie hat es leider noch
nicht geschafft, viele Sponsoren kontinuierlich an sich zu binden,
und das macht
das Haus
selbst extrem
anfällig
für schwierigere Schieflagen. Es gibt im Ruhrgebiet aber einfach so viele
Kultur-Aktivitäten, dass sich die Unternehmen, die grundsätzlich
zur Förderung bereit sind, auch schwer tun: RuhrTriennale, Ruhrfestspiele,
Klavierfestival Ruhr, Traumzeit-Festival um nur einige zu nennen, dazu die
Orchester, die Opernhäuser, die Schauspielhäuser und die „kleineren“ Aktivitäten.
Ich sehe es mit Sorge, dass möglicherweise der erfolgreichere Wettlauf
um die Sponsoren darüber entscheidet, welche Programme es in Zukunft gibt
und welche nicht. Wenn uns die Sponsoren für die großen Konzerte
fehlen, fehlen uns die Spielräume für unser ambitioniertes Kammermusikprogramm
und die Liederabende, und wir können unsere Schulprojekte nicht mehr finanzieren,
weil wir darauf natürlich keine Sponsor-Erträge generieren können.
Da es wohl in Anbetracht der Finanzlage der Stadt Essen unsinnig wäre,
hier nach einer Erweiterung der Finanzierung zu „schreien“, bleibt
mir nichts anderes, als anzuregen und zu betreiben, dass eine stärkere
Prioritätensetzung von den Kommunen auch über Stadtgrenzen hinaus
erfolgt, um zu definieren, welche Angebote unverzichtbar sind und gegebenenfalls
auch im Verbund entsprechend finanziert werden. Tut man das nicht, befürchte
ich eine Gefährdung vieler für das Gemeinwohl essenzieller kultureller
Aktivitäten. Dass ich mir mit dieser Haltung derzeit mehr Kritiker als
Freunde mache, belastet mich und scheint doch unvermeidlich. Da wir durch viele
lebendige Kooperationen in der Stadt Essen und in der Region – angefangen
von den Kindern in Essen-Katernberg bis zu unserer engen Kooperation mit der
Folkwang Hochschule und von den Nachwuchs-Ensembles des Landes bis zu den hervorragenden
Orchestern der Region – unter Beweis stellen, wie sehr diese Philharmonie
Essen ein Ort für alle Menschen in der Mittleren Ruhr-Region sein kann,
empfinde ich meine Haltung als vertretbar. Dass ich davon überzeugt und
beseelt bin, dass unser herrliches Haus bestens geeignet ist, ein Kristallisationspunkt
kulturellen Lebens in der und für die Region zu sein, sollte mir eigentlich
auch niemand vorwerfen können.
Das Gespräch führte Thomas Otto
Statements
„Kaum zu glauben, dass die Philharmonie erst in ihre fünfte Spielzeit
geht. So selbstverständlich wird sie längst als grandioser Bestandteil
des Essener Kulturlebens empfunden. Ebenso selbstverständlich
sind längst
alle Zweifel verstummt, ob die Entscheidung für die
Philharmonie im Saalbau tatsächlich richtig und zukunftsweisend
war. Spätestens seitdem sich
Dirigenten, Solisten, die großen Namen des Konzertlebens
buchstäblich
die Klinke in die Hand geben und insbesondere immer wieder
die Akustik des Alfried Krupp-Saals rühmen, ist das
alles ‚Schnee von gestern‘.“
Dr. Wolfgang Reiniger, Oberbürgermeister der Stadt
Essen
„Ich gratuliere zum fünfjährigen Bestehen der Philharmonie.
In kürzester Zeit ist dieser herrliche Saal zu einem wichtigen Kulturzentrum
in Europa gewachsen. Akustik sowie das Publikum inspirieren zu musikalischen
Höhenflügen. Ich freue mich auf viele spannende Begegnungen in
Essen in der Zukunft.“
Anne-Sophie Mutter
„Die Philharmonie Essen spielt in der ersten Liga der nationalen Konzerthäuser.
Sie tönt im Takt der Zeit und liefert innovative Impulse für die
regionale Kulturlandschaft. Darum könnte das Thema „Stifter und
Anstifter Neuer Musik“ zur Jubiläumsspielzeit nicht treffender
sein: Die Philharmonie Essen selbst ist ein stimulierendes Fundament der
Kulturmetropole
Ruhr.“
Prof. Dr. Oliver Scheytt, Kulturdezernent der Stadt Essen, Geschäftsführer
der RUHR.2010 GmbH
„Die Philharmonie Essen besteht nun fünf Jahre. Dazu kann man ihr
nur gratulieren! Ich bestehe schon über 55 Jahre, wozu man mir nicht eigens
gratulieren muss. Aber der Philharmonie Essen darf man – so jung wie
sie ist – von Herzen gratulieren, dass sie sich ans Bewährte hält
und einen alten Komponisten wie mich in den Mittelpunkt ihres Interesses rückt.
So bleiben wir beide lebendig und dürfen in 45 Jahren wieder feiern:
die Philharmonie ihren 50. und ich meinen 100. Geburtstag.“
Wolfgang Rihm
„Besonderen Wert legt der exzellente Intendant Michael Kaufmann auch
auf die Nachwuchsförderung. Das Engagement reicht dabei von allgemein
bildenden Schulen über Musikschulen bis zur intensiven und kreativen
Zusammenarbeit mit der Folkwang Hochschule.“
Prof. Dr. Martin Pfeffer, Rektor der Folkwang Hochschule
Die Cappella Coloniensis und ich sind gewissermaßen Philharmonie-Künstler
der ersten Stunde: Der konzertante „Urholländer“ in der Eröffnungswoche – eine
Sternstunde in meinem Leben – war der vielzitierte Beginn einer wunderbaren
Freundschaft. Nach vielen weiteren wunderbaren Konzerten sind wir nur Residenz-Orchester
in einem der profiliertesten und vielseitigsten Konzerthäuser Deutschlands, – betreut
durch ein ausgezeichnetes Team, vor einem versierten Publikum in einem Saal
mit einer hervorragenden Akustik!“
Bruno Weil, Dirigent