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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 3-4
57. Jahrgang | Mai
Magazin
Auf der Suche nach der Essenz einer Wüstenstadt
Der Komponist Jörg Widmann über die Reise „into Dubai“ – ein
Bildbericht mit Fotos von Manu Theobald
„Das neue Musikprojekt des Ensemble Modern und des Siemens Arts Program
in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut stellt den Versuch dar, musikalisch
das Wesen einer Stadt zu ergründen. Seit 2006 wohnt mehr als die Hälfte
der Weltbevölkerung in Städten – schon allein diese Tatsache
rückt die Stadt in den Fokus des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen
Interesses. Ihre Verlockungen setzen seit jeher Menschen in Bewegung, sei es
in der Hoffnung auf Erfüllung von Sehnsüchten, auf der Suche nach
wirtschaftlichem, gesellschaftlichem Erfolg oder dem Streben nach privatem
Glück. Gleichzeitig unterliegt die Stadt einem fortwährenden inneren
Wandel. An keinem Tag ist sie wie zuvor, und doch behält sie ihre Substanz.
Was aber macht die Wesenheit einer Stadt aus? Was bestimmt ihre jeweilige „Essenz“ jenseits
bekannter Assoziationen und Konnotationen, jenseits des äußeren
Erscheinungsbildes, der geografischen oder klimatischen Lage? ,into …‘ ist
eine künstlerische Annäherung – der Versuch, auf diese Fragen
musikalisch zu antworten.“ (Siemens Arts Program).
In ihrer Februarausgabe berichtete die nmz vom Projekt „into …“.
Jeweils vier Komponisten leben einen Monat lang in je einer der vier Megastädte
Istanbul, Dubai, Johannesburg und im Pearl River Delta. Danach werden sie ein
etwa 20-minütiges Werk für das Ensemble Modern komponieren. Die unterschiedlichen
Versuche, dem Wesen der verschiedenen Städte musikalisch Ausdruck zu verleihen,
werden ab Oktober 2008 zur Aufführung gebracht: ein musikalisches Städtewerk.
Die Fotografin Manu Theobald begleitete Jörg Widmann, der wie Markus Hechtle,
Vykintas Baltakas und Márton Illés in Dubai war, mit ihrer Kamera.
Ihre Fotogeschichte erzählt auf den Seiten 3 und 4 von den Eindrücken
des deutschen Komponisten in der arabischen Boomtown.
Vom alpenländischen Walzer in Dubai
Jörg Widmann über seine Eindrücke während und nach einer
Dubai-Reise
Zum Abschluss des Aufenthaltes von Jörg Widmann in Dubai führte
Sonja Schirmbeck vom Goethe-Institut Golf-Region ein Interview mit ihm über
seine Eindrücke. Die nmz zitiert eine Passage, in der Widmann über
den Einfluss des Aufenthaltes auf seine Arbeitsweise und sein Werk spricht.
Wir hatten zu Beginn meines Aufenthaltes von meinem Respekt der arabischen
Musik gegenüber gesprochen, der noch mehr gewachsen ist, seit wir hier
Nasser Abaidoh getroffen haben, einen großartigen palästinensischen
Musiker. Man darf so etwas Kostbares nicht einfach so für seine eigenen
Zwecke ausbeuten und mitnehmen. Meine ursprüngliche Reaktion nach zwei,
drei Wochen auf all das Neue und Fremde war ja auch die, dass ich plötzlich
diesen skurrilen alpenländischen Walzer geschrieben habe und überhaupt
sehr kurze, aphoristische Stücke. Es ist eine seltsame, aber für
mich heute nachvollziehbare Reaktion: Man vergewissert sich des Eigenen. Genauso,
wie es einen unter Umständen zuhause woandershin in die Fremde drängt,
so trieb es mich in der Fremde zum Eigenen.
Ich habe hier auf der Klarinette unendlich viel Mozart gespielt, auch auf
dem Klavier Mozart, Schumann und Brahms und Berg. Das von mir so Geliebte,
wo ich
eigentlich herkomme, wo wir herkommen. Diese widerstrebenden Energien haben
mich dann zu der Überlegung gebracht, dass man genau dies vielleicht doch
zum Thema machen muss. Diese zwei Welten doch aufeinanderzujagen und mit unversöhnlichen
Schnitten musikalisch aufeinanderzuhetzen, zumal für mich in der Stadt
diese Schnitte eine große Rolle spielen. Als wir zum Beispiel in der
Marina waren – einer im Entstehen begriffenen futuristischen Lichter-Türme-Mini-Stadt
innerhalb von Dubai – tönt in diese Hyper-Moderne im Fortissimo
ein Muezzin-Ruf. Das sind fast unvereinbare Sichtweisen der Welt. Und das alles
an einem Ort.
Und diese Schnitte, dieses nicht zu Vereinbarende und dieses Nicht-Versöhnliche
wird in irgendeiner Form die Struktur meines Stückes bestimmen. Ich glaube,
dass ich nach meinem Aufenthalt kein rundes Bild der Stadt abliefern kann und
will. Kein Bild, das aufgeht. Es wird sehr widersprüchlich sein, es wird
Ecken und Kanten haben müssen.
Jörg Widmann und Markus Hechtle hielten an der Universität in Al
Ain eine Lecture, bei der sie auch ihre Musik auf CD vorstellten:
Für mich aber vielleicht noch wichtiger als die Begegnung mit Nasser Abaidoh,
war die mit den verschleierten jungen Frauen in der Universität Al Ain.
Das war für mich mit die wichtigste und schönste Begegnung der ganzen
Zeit.
Ich habe gemeinsam mit Markus Hechtle zwei Workshops gegeben, einem Studien-Kollegen
aus meiner Karlsruher Zeit, den ich im Rahmen dieses Projektes zu meiner
großen
Freude wiedergesehen habe. Alle beteiligten Institutionen waren in großer
Sorge und Anspannung, da es sich um eine absolute Premiere handelte. Wir brauchten
sogar eine Genehmigung, die das Goethe-Institut besorgt hat, um als Männer
den Campus dieser Frauen-Universität betreten zu dürfen. An diesem
Ort hatte es noch nie eine vergleichbare Veranstaltung gegeben, noch dazu mit
zeitgenössischer Musik. Niemand wusste, was passieren würde. Wir
stellten unsere Musik vor, erzählten ein wenig von dem Projekt und kamen
schnell ins Gespräch. Die Fragen der Damen waren blitzend intelligent,
auch witzig, kritisch oder zustimmend. Und am Schluss kamen alle euphorisch
und heiter zu uns auf die Bühne. In die-se glücklichen, lachenden
und schönen Gesichter zu sehen, das werde ich nicht vergessen. Allein
wegen dieser Begegnung hätte sich der Aufenthalt schon gelohnt.