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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 15
57. Jahrgang | Mai
Musikwirtschaft
Immer am Puls der Zeit und des Musiktheaters
200 Jahre nach ihrer Gründung wird die traditionsreiche Casa
Ricordi von Universal einverleibt
Das Musikland Italien trauert. 200 Jahre nach seiner Gründung
durch Giovanni Ricordi, geht der Verlag Ricordi an die Universal
Music Group, während das Ricordi-Archiv bei Bertelsmann bleibt. „Aufstieg
und Fall eines Verlagshauses in Zeiten des kulturellen Niedergangs
in Italien“, so beschreibt Giordano Montecchi die Situation
in der Zeitschrift Giornale della Musica.
Was ist geschehen? Werfen wir doch anlässlich des 200-Jahr-Jubiläums
einen Blick auf die Geschichte und Gegenwart der Casa Ricordi.
Bereits 1994 ging die Aktiengesellschaft G. Ricordi & Co in
den Besitz der Bertelsmann Music Group (BMG) über. Seit 2007
gehört der Verlag der Universal Music Group, der Musiksparte
des französischen Konzerns Vivendi. Ein Novum insofern, als
Universal im Klassikbereich vorher verlegerisch nicht tätig
war. Die Headquarters von Universal Music sind in Los Angeles,
die europäische Führung sitzt in London. Universal teilt
sich auf in den Bereich der Tonträger, zu nennen wären
hier etwa Deutsche Grammophon oder Decca, und in einen Verlagsbereich,
zu dem nun Ricordi zählt.
Die neuen Inhaber von Casa Ricordi, Ricordi London, Ricordi München,
Durand-Salabert-Eschig und Editio Musica Budapest verfügen
mit dem italienischen Traditionshaus und mit Durand-Salabert-Eschig über
wahre Schätze an Rechten: geschützte jüngere Werke
und teilgeschützte kritische Werkausgaben. Man benötigt
für das Geschäft mit der Kunst in der Regel sicheres
Gespür für gute Musik, ein inhaltlich diversifiziertes
Verlagsprogramm; und darüber hinaus natürlich langen
Atem. Die teils enormen Investitionen etwa in eine zeitgenössische
Oper – die durchaus im unteren sechsstelligen Bereich liegen
können – sind natürlich immer mit einem hohen geschäftlichen
Risiko verbunden. Hier ist absolutes Vertrauen zum Komponisten
und dessen Arbeit nötig, wie es der Verlag etwa im Fall der
vor einigen Wochen uraufgeführten vierstündigen Oper „Das
Märchen“ von Emmanuel Nunes aufgebracht hat, in der Überzeugung,
hier die Entstehung eines Jahrhundertwerks mit ermöglich zu
haben.
Ricordi verfügt im schmalen Markt der Gegenwartsmusik über
kommerziell erfolgreiche lebende Komponisten wie zum Beispiel Giorgio
Battistelli und Mauro Lanza in Mailand, Peter Eötvös,
Enno Poppe und Heiner Goebbels in München oder Liza Lim in
London. Diese Namen stehen aber auch für etwas im Unternehmen
Ricordi, das man Italianitá nennen könnte: Progressives
Musiktheater spielte seit der ersten Stunde des Verlagshauses stets
eine Hauptrolle.
Königlicher Verleger
Zwei Jahrhunderte zurück: Es war einmal ein Geiger namens
Giovanni Ricordi. Der Sohn eines Glasschneiders war im Geistesklima
des napoleonischen Mailand aufgewachsen, in dem Initiative und
Unternehmertum erwünscht waren. In dieser Epoche hatten Opern üblicherweise
ein kurzes Leben. Man wollte Neues, nur wenige Stücke schafften
es, in mehreren Theatern hintereinander aufgeführt zu werden.
Eine Situation, wie wir sie heute auch wieder kennen. Diese Flüchtigkeit
der Werke war der Grund dafür, dass man keine Energie und
vor allem keine Kosten in den aufwändigen Druck von Partituren
und Stimmen investierte.
Mit dem Aufkommen der bürgerlichen Hausmusik und der Praxis
der Amateuraufführungen änderte sich diese Situation
dramatisch. Giovanni Ricordi erkannte die Zeichen der Zeit: Erst
von Leipzig zurückgekommen, wo er das Notenstechen bei dem
alteingesessenen Verlag Breitkopf & Härtel gelernt hatte,
gründete er 1908 sein Druck- und Verlagshaus in Mailand.
Neben der Tätigkeit auf dem pädagogischen und dem kammermusikalischen
Gebiet setzte Ricordi vor allem auf die Zusammenarbeit mit den
italienischen Opernhäusern. Als ehemaliger Geiger, Kopist
und Souffleur an verschiedenen Häusern kannte Ricordi die
Erfordernisse des Opernbetriebs genau. Die Marktrecherche hatte
er gründlich betrieben: Innerhalb kurzer Zeit setzten sich
seine Drucke dank ihrer guten Qualität am Markt durch, er
bekam den Titel „Verleger des königlichen Musikkonservatoriums“ verliehen.
1814 gelang es ihm, mit der Scala einen Exklusivvertrag zu schließen,
der ihn berechtigte, alle dort zur Aufführung kommenden Opern
zu vertreiben. Es folgten ähnliche Verträge mit großen
Häusern in Venedig und Neapel. Ebenso wichtig waren die Verträge,
die er mit Komponisten abschloss, um diese langfristig an die Casa
Ricordi zu binden: darunter Gioacchino Rossini, Vincenzo Bellini,
Gaetano Donizetti und 1844 erstmals Giuseppe Verdi, mit Nabucco
und I Lombardi.
Fokus Musiktheater
Der Fokus aufs Musiktheater ist Ricordi bis heute erhalten geblieben.
Das korreliert mit dem Drang der Komponisten, Oper und Musiktheater
zu machen. Gleichzeitig ist Oper aber auch das ideale Mittel, um Öffentlichkeit
für die Neue Musik zu schaffen. Zurück nach Mailand:
Als Giovanni Ricordi 1853 starb, übernahm sein Sohn Tito Ricordi
d. Ä. (1811–1888) die Verlagsleitung. Er erwarb 1888
auf Anraten Verdis das Verlagshaus Lucca und holte damit Werke
von Meyerbeer, Halévy, Gounod, Ponchielli und Catalani zu
Ricordi, einschließlich der italienischen Rechte an den Werken
Wagners. 1919 beendete das Ausscheiden Tito Ricordis d. J. (1865–1933)
die Ära des Familienunternehmens Ricordi.
Heute hat Ricordi Niederlassungen in Mailand, Paris, London,
Budapest und München. Die Münchener Niederlassung des Verlags,
die 1945 aus der Leipziger Filiale hervorging, vertritt die Kataloge
der Schwesterfirmen in Deutschland, Tschechien, Polen, Schweiz
und den ehemaligen Ländern der Sowjetunion. Die drei Hauptschwerpunkte
sind Werkausgaben, Pädagogik und Neue Musik.
Es erscheinen die kritische Ausgabe der Werke von Giacomo Meyerbeer
sowie Werkausgaben von Alexander Zemlinsky, Karel Reiner und Manfred
Gurlitt. Geschäftsführer Reinhold Quandt initiierte erst
vor kurzem in Kooperation mit der Internationalen Simon-Mayr-Gesellschaft
in Ingolstadt die Herausgabe des gesamten Schaffens des bayerischen
Komponisten Giovanni Simon Mayr, der in der Nähe von Ingolstadt
geboren wurde, zu seinen Lebzeiten als Opernkomponist weit über
Europa hinaus gerühmt und in Italien liebevoll „Papa
Mayr“ genannt wurde. Mayr war ein Lehrer Donizettis, nahm
eine Mittlerfunktion zwischen Mozarts Opernschaffen und dem italienischen
Belcanto ein und galt sogar als „Vater der italienischen
Oper“. Erst jüngst brachte das Staatstheater Braunschweig
die deutsche Erstaufführung von Mayrs „Fedra“ – seit
161 Jahren (damals in New York) die erste Aufführung einer
Mayr-Oper – heraus. Und das ist erst der Anfang: Da Mayr
nahezu 70 Opern geschrieben hat, steht den Münchnern entsprechend
Arbeit ins Haus.
Stachlige Stücke im Katalog
Ricordi München bindet seine etwa 25 Komponisten nicht an
Exklusivverträge. Aber: „Wir verlegen jedes Werk, das
uns unsere Komponisten anbieten“, sagt Michael Zwenzner,
der für die Promotion zuständig ist, „die Vertrauensbasis
ist das Entscheidende“.
Vinko Globokar, Heiner Goebbels, Klaus Huber, Emmanuel Nunes,
Younghi Pagh-Paan, Samir Odeh-Tamimi, Rolf Riehm, Bettina Skrzypczak,
Nikolaus
Brass oder Enno Poppe, dessen Musiktheater „Arbeit Nahrung
Wohnung“ aktuell auf der Münchener Biennale seine Uraufführung
erlebte – der Verlagspromoter Michael Zwenzner ist sichtbar
zufrieden, wenn er Namen aus dem aktuellen Ricordi Katalog nennt.
Aber er ist auch Realist: „Es sind stachlige Stücke
im Katalog, Stücke wider den Zeitgeist. Radikalere Positionen – wie
bei Ricordi stark vertreten – haben es heute schwerer, wo
viel Musik komponiert wird, die sich an Publikumserwartungen
und an die Routine der meisten Opernhäuser und der Orchester
anpasst.“ Dass etwa „Das Schweigen der Sirenen“ von
Rolf Riehm oder Klaus Hubers zentrales Meisterwerk „Schwarzerde“ seit
ihren Uraufführungsproduktionen nie wieder aufgegriffen wurden,
verweist auf Tendenzen, die ihn beunruhigen.
Die Furcht vieler Branchenkenner, dass die Verlage das Vertrauen
in Komponisten verlieren, „die emphatisch am Kunstanspruch
festhalten“, teilt Zwenzner nicht und präsentiert vier
neue Komponisten bei Ricordi, die garantiert keine Eintagsfliegen
sind: die Deutsche Annette Schlünz, den Tschechen Jan Jirásek,
den Franzosen Fabien Lévy und den Russen Sergej Newski.