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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 16
57. Jahrgang | Mai
Forum Musikpädagogik
Barockes Repertoire entstauben und neu gestalten
Ein Plädoyer für eine verstärkte Auseinandersetzung
mit historischer Aufführungspraxis in den Musikschulen
Alte Musik ist im Musikgeschäft schon längst keine bloße
Nische mehr. Selbst renommierte Veranstaltungsreihen setzen immer
wieder auf Konzerte mit barocken Spezialisten. Die Sparte Alte
Musik, so könnte man meinen, setzt sich damit auch in unseren
Musikschulen durch. Müssen ja die heutigen Musiker erst einmal
als Kinder dafür gewonnen und ausgebildet werden. Dies ist
aber nur ganz selten der Fall. Es ist erstaunlich, dass, einmal
abgesehen von der Blockflöte, historische Instrumente und
Aufführungspraxis in vielen Musikschulen immer noch unterrepräsentiert
sind.
Dabei bietet die Alte Musik besondere Chancen in pädagogischer
Hinsicht. Stehen hier doch neben dem stilistischen Spezialwissen
auch besondere Herangehensweisen an die Musik im Mittelpunkt, die
sich positiv auf die gesamte Spielweise und Musizierhaltung der
Schüler auswirken können. Doch zu groß ist bei
vielen Lehrern wie Schülern der Respekt vor den „alten
Meistern“ und ihren Kunstwerken, weswegen sie sich einen
lebendigen Umgang mit den Werken häufig nicht vorstellen können.
Dabei lässt sich mit etwas Hintergrundwissen und einem neugierigen
Blick auf das Musikstück beispielsweise schnell herausfinden,
was zur verbindlichen Struktur und Charakteristik eines Stückes
beiträgt und wo Freiräume für eigene Gestaltungen,
Verzierungen und Improvisationen sind. Das bedeutet auch umgekehrt,
dass sich musikalische Ornamente aus einem Werk „herausfiltern“ lassen,
ohne die wesentliche Aussage der Musik zu verändern. Ein methodischer
Nebeneffekt hiervon ist, dass die Lehrer so die Schwierigkeit und
Komplexität eines Stückes selbst regulieren und den aktuellen
Fähigkeiten der Schüler anpassen können. Es bieten
sich damit besonders im Ensembleunterricht zahlreiche Möglichkeiten
der Binnendifferenzierung, indem einfache Stücke verkompliziert
und schwierige Stücke vereinfacht werden. So können bei
den Schülern nicht nur echte Urhebererlebnisse, sondern auch
ein vertieftes Verständnis für die Strukturen von Musik
befördert werden. Mit anderen Worten: Musik wird für
sie bedeutsam.
Vertieftes Verständnis
für die Musik
„Kein Interesse seitens der Schüler“, „keine Instrumente
vorhanden“, „zusätzlicher Aufführungspraxisunterricht
ist zu teuer“ … So oder ähnlich mögen die
Einwände seitens der Kollegen, Schulleitungen und Eltern klingen.
Zugegebenermaßen verlangt es immer noch einiges an Engagement,
um aus der so genannten Alten Musik einen anerkannten Fachbereich
innerhalb der Musikschule zu machen. Dabei sind die Vorteile nicht
von der Hand zu weisen: Einerseits lernen die Schüler strukturelles
Denken, vertiefen ihr Verständnis für die Musik, die
sie spielen, und gewinnen einen offenen Blick auf Musik jedweder
Epoche. Die Lehrer wiederum werden in die Lage versetzt, selbst
heterogene Ensembles zu einer gemeinsamen Leistung zu führen.
Dass sich der Aufwand lohnt, zeigt ein Beispiel aus der Städtischen
Sing- und Musikschule in Erlangen. In dieser Musikschule können
Kinder seit 50 Jahren Viola da gamba lernen. Einst eingeführt
vom Gründer der Musikschule, Rudolf Steidel, der in seiner
Freizeit ein begeisterter Gambenspieler war, werden seitdem kontinuierlich
bis zu 35 Kinder unterrichtet. Das damalige Konzept ist heute noch
ein Erfolgsmodell: Über 30 preiswerte Leihinstrumente – aus
den Anfängen herkommend leider noch mit Stahlsaiten bespannt – machen
den Schülern die Entscheidung für das Instrument leicht.
Wer nun bei Viola da gamba an einfache Tänze der Renaissance
und einen eher sparsamen Umgang mit der Dynamik denkt, liegt nur
teilweise richtig. Das Instrument ist zwar prädestiniert,
die Alte Musik innerhalb der Musikschule zu repräsentieren,
ist aber im Bereich der zeitgenössischen Musik ebenso beheimatet.
Das im Folgenden beschriebene Projekt möchte aufzeigen, wie
durch öffentlichkeitswirksame Auftritte und Musikschulaktivitäten
der Stellenwert der historischen Aufführungspraxis verbessert
werden kann: Im barocken Markgrafentheater der Stadt Erlangen wurde
die Oper „Alceste“ im Februar/März 2008 aufgeführt.
Die Produktion entstand in Zusammenarbeit mit der Hochschule für
Musik Nürnberg (Studio für Alte Musik), dem Staatstheater
Nürnberg (Gesang, Regie) und dem Theater Erlangen (Schauspiel).
Dieses professionelle Spektakel animierte Michael Webert und Tina
Groth von der ortsansässigen Musikschule, ihre Gambenschülerinnen
das Bühnenerlebnis nachspüren zu lassen.
Sie vereinfachten die Musik Händels, ließen Verzierungen
weg, rhythmisierten schlichter, kurz: Sie schneiderten die Nummern
den Schülerinnen auf den Leib. So wurde die doch ursprünglich
komplexe und anspruchsvolle Musik selbst für Anfängerinnen
spielbar gemacht. Dabei stand die Vereinfachung stets unter der
Prämisse, dass sie sich zusammen mit der Originalkomposition
musizieren lassen können muss.
17 Gambenschülerinnen erobern Händel
Die neun- bis fünfzehnjährigen Gambistinnen probten die
Musik mit Begeisterung und nach vier Wochen stand der Höhepunkt
des Projektes an: Ein Schülervorspiel im Orchestergraben des
Markgrafentheaters. Unter dem Dirigat von Hartwig Groth, dem Leiter
des Studios für Alte Musik, und mit Hilfe einiger seiner Studenten
gelang das hörenswerte Experiment: Die Studenten musizierten
die Händelsche Originalmusik, und gemeinsam mit den zwei vereinfachten
Versionen der Musikschülerinnen – eine für Fortgeschrittene
und eine für die Anfängerinnen – erklang ein volles
Orchester. Die anwesenden Eltern und Kollegen zeigten sich beeindruckt.
Für die Kinder und Jugendlichen war es ein aufregendes Erlebnis,
unter professionellen Bedingungen neben den angehenden Profis im
Orchestergraben zu spielen.
Zum Abschluss des Projektes besuchten die Musikschülerinnen
die abendliche Vorstellung der Oper. Es war zu beobachten, wie
manch eine mit neuer Aufmerksamkeit lauschte, waren sie jetzt doch „Eingeweihte“.
Und umgekehrt: Aus dem Orchestergraben winkten die Studenten ihren
neu gewonnenen „Kolleginnen“ im 3. Rang zu. Die Initiatoren
planen schon die Neuauflage mit Henry Purcells „Dido und
Aeneas“ im nächsten Jahr.