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2008/05 | Seite 11
57. Jahrgang | Mai
Praxis: Konzertvermittlung
Wahrnehmung ist auch eine Frage der Umstände
Wenn Schülerkonzerte keine Oasen der Ruhe sind – Anregungen
zur Programmgestaltung
„Das Vorhandensein von Ohren ist noch keine Garantie dafür,
dass auch gehört wird.“(Murray Schafer)
Die Anfrage bei einer Kulturstiftung hinsichtlich der Antragstellung
zur Unterstützung einer Schulkonzertreihe in sozial benachteiligten
Stadtteilen Hamburgs führte vor einigen Monaten zu einer deutlichen
Abfuhr, sobald das Wort ‚Schulkonzert’ überhaupt
ausgesprochen war. „Schulkonzerte sind für uns noch
kein förderungswürdiges Projekt. Konzerte sind uns grundsätzlich
zu rezeptiv, alles ist zu sehr aufs Hören ausgelegt, ein bisschen
mehr Aktivität müssen wir schon erwarten können,
damit uns ein Projekt unterstützungswürdig erscheint!“ Das
Gespräch war schnell beendet, eine Antwort auf die Frage,
ob und wenn ja, ab wann eine Veranstaltung als „zu rezeptiv“ bezeichnet
werden kann, steht hingegen bis heute aus.
Das Beispiel ist kein Einzelfall. Der einen Person ist eine Veranstaltung
zu rezeptiv, eine andere hingegen beklagt sich darüber, dass
man Kinder nicht noch viel öfter „einfach mal zum Zuhören
verdonnert“. Konträrer könnten die Meinungen kaum
ausfallen. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass bei vielen für
die Programmgestaltung Verantwortlichen ein eklatanter Bewusstseinsmangel
darüber besteht, welch extrem hoher Kunst und besonderer Begabung
es bedarf, all die Schönheit, die von live und konzertant
gespielter Musik ausgeht, als junger unerfahrener Konzertbesucher überhaupt
wahrnehmen zu können.
Welche konkreten Grundvoraussetzungen, so stellt sich die Frage,
liegen einem auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden Musikhören
zugrunde, das ungeübte Schülerinnen und Schüler
befähigt, hören, lauschen, zuhören und in sich selbst
hineinhorchen zu lernen? In diesen Zusammenhängen wird vielfach über
neurophysiologische und -psychologische Gegebenheiten diskutiert,
will man erfahren, warum es Kindern so schwerfällt, sich konzertanter
Musik unvorbereitet einfach „hinzugeben“. Hinsichtlich
der Entwicklung wahrnehmungsspezifischer Fähigkeiten von jungen
Hörern sind es jedoch nicht nur die entwicklungspsychologischen
Komponenten, die bei diesen Überlegungen eine entscheidende
Rolle spielen. Einige Orchester bieten am Wochenende Kinderkonzertprogramme
für die ganze Familie an und spielen das gleiche Programm
am Tag darauf noch einmal als Konzert für Schulklassen. Was
noch am Sonntag eine Oase der Ruhe war, wird am Montag zum Brodeltopf:
Bei einem direkten Vergleich beider Veranstaltungen wird oftmals
eklatant deutlich, dass soziale und sozialisierende Aspekte von
mindestens ebenso zentraler Bedeutung für die Hörwahrnehmung
sind. Mitunter sind die Schulkinder im Gegensatz zu den privat
kommenden Kindern sogar auf den Konzertbesuch vorbereitet, und
dennoch fällt es ihnen inmitten ihrer Klassenkameraden ungeheuer
schwer, sich auf das musikalische Geschehen auf der Bühne
zu konzentrieren.
Die begleitenden Lehrkräfte, in der Regel nur zwei Personen
pro Klasse, nehmen im Vorfeld der Veranstaltungen mitunter selbst
an Vorbereitungsworkshops teil, sichten Materialien, begeben sich
auf die Suche nach geeigneten Hörbeispielen und bereiten ihre
Klassen bestmöglich auf den Konzertbesuch vor. Trotz aller
Bemühungen werden sie dann vor Ort von dem Verhalten ihrer
Schülerinnen und Schüler oftmals so enttäuscht,
dass ihre Motivation für die Teilnahme an Folgeveranstaltungen
nahezu automatisch sinkt, obwohl ihnen das Plädoyer für
eine „frühe kulturelle Bildung von Anfang an“ ständig
in den Ohren klingelt. An dieser Stelle sind mehr denn je die bereits
mehrfach propagierten „Arbeitsbündnisse für konzertpädagogische
Vermittlung“ gefragt. Nur wenn alle Beteiligten, die Lehrkräfte,
Musiker und die für das Programm Verantwortlichen sich zusammentun
und einen offensiven Umgang mit der beschriebenen Problematik pflegen,
lassen sich geeignete Konzepte entwickeln, die mit viel Geduld
zu einer vertieften Wahrnehmungsfähigkeit von jungen, ungeübten
Hörerinnen und Hörern führen können. Die folgenden
Anregungen sind aus Beobachtungen heraus entstanden und mögen
als kleine „Checkliste“ für die Programmgestaltung
dienen:
1. Das pure Zuhören ist nur über einen Zeitraum weniger
Minuten möglich. Musikhören muss sich für ungeübte
Schulkinder darum immer als komplexer und vielgestaltiger Prozess
vollziehen, bei dem die Kinder vom ruhigen Zuhören von Musik
in Bewegung mit der Musik und wieder zurück zur Ruhe gelangen.
Hier liegt die besondere Kunst sowohl in einer Vielfalt der Stückauswahl
als auch in der Überlegung, an welchen Stellen sich musikalische
Mitspielaktionen für die Kinder anbieten und wo sie eher als
störend empfunden werden.
2. Die Kinder müssen lernen, ihre Ohren über sensibel
angebahnte Hör- und Mitspielaufgaben regelrecht auszuruhen,
um überhaupt erst einmal „hör-bereit“ für
das genussvolle Lauschen von Musik zu werden. Diese Mitspielaufgaben
müssen sensibel gestaltet werden und dürfen nicht für
zusätzliche Unruhe im Saal sorgen. Pantomimische Spiegelspielbewegungen
bieten sich dafür ebenso an wie ein mehrstimmiges Musizieren
mit feinsinnigen Bodyperkussionsmustern, an denen pro Stimme nur
Teile des Saales beteiligt werden.
3. Auch die Stille und das Stillsein, welche zum Musikhören
zwangsläufig erforderlich sind, müssen in feinen Minidosierungen
trainiert werden, um den Kindern ein wesentliches „Zu-sich-selbst-kommen“ und
damit eine wohltuende Ausblendung der Vielzahl allzu dominanter
akustischer Wahrnehmungen, die täglich auf sie einströmen,
zu ermöglichen. Die Publikumskinder müssen selbst spüren
lernen, dass Stille im ganzen Saal etwas extrem Genussvolles bedeuten
kann. Mitunter sorgt ein überraschender Auftritt von an der
Konzertgestaltung beteiligten Tanz- oder Chorkindern ebenso für
solche besonderen Momente wie ein plötzlich vorgenommener
Lichtwechsel.
4. Vielfältige, sinnliche Erfahrungen im Umgang mit Stille
sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, unter Ausschluss
des dominierenden visuellen Sinnes das Musikhören, aber auch
das allgemeine Hören nach innen und in sich selbst hinein überhaupt
entdecken zu können. Konkrete Höraufgaben können
dabei ebenso zum Geschehen beitragen wie extreme Parameterwechsel
bezüglich Dynamik, Tempo, Artikulation, Tonhöhen, Klangfarben
et cetera.
5. Momente der aktiven Zuhörruhe, sofern sie denn gelingen,
sollten viel Raum für eigene Gefühle, den eigenen Atem
und die Anregung des eigenen Körpers zulassen. Solche Situationen
können auch in der Nachbereitung eines Konzertbesuches im
Gespräch mit den Schulkindern noch einmal aufgegriffen und
thematisiert werden, frei nach dem Motto „welcher Moment
hat euch während des Konzertes besonders gut gefallen, bei
welchem Stück konntest du die Musik am besten spüren,
welches Instrument hat deine Ohren am meisten beeindruckt …?“
6. Innerhalb der Vorstellungstätigkeit der Kinder werden während
des konzertanten Hörens der Musik individuelle „Filme“ und
innere Bilder in Gang gesetzt, die vielfältige Gelegenheiten
für kreative Mal-, Sprach- und Schreibanlässe bieten.
Diese sollten anberaumt werden, um bei den Kindern Assoziationen
freizusetzen, welche im anschließenden Gespräch, beim
Malen eines Erinnerungsbildes oder Schreiben eines Briefes an die
Orchestermusiker Anmerkungen zur Musik, Vergleiche mit anderen
Erlebnissen sowie persönliche Geschichten zulassen. Auf diesem
Wege wird die kindliche Fantasie auch für weiterführende
künstlerische Prozesse angeregt und gefördert.
Eine differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit steht nie am Anfang
aller sinnlichen Entwicklung. Im Gegenteil, sie bildet sich erst
langsam und mit der Zeit heraus. Auch die Leserinnen und Leser
dieser Zeitung mussten sie sich aneignen. Ihre Rezeptionsfähigkeiten
haben sich möglicherweise bereits mit jungen Jahren entwickelt
und schon dann wurden ihre prägenden Wurzeln für eine
sinnliche Wahrnehmung von Musik zum Zuhören gelegt. Den Kindern
der heutigen Grundschulgeneration fällt es zunehmend schwer,
all die Erfahrungen in verschiedenen sinnlichen Bereichen zu koordinieren,
die für das Erfassen ihrer Umwelt und erst recht für
das Hören von Musik vonnöten sind. Und manchmal fällt
es uns Erwachsenen schwer, sich in die Gemüter junger Konzertbesucher
zu versetzen. Der Besuch eines Schulkonzertes sei dafür dringend
empfohlen.