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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 46
57. Jahrgang | Mai
Bücher
Der musikalischen Kreativität auf der Spur
Renate Reitinger verbindet die Untersuchung von Kinderkompositionen
mit Praxisanregungen
Renate Reitinger: Musik erfinden. Kompositionen
von Kindern als Ausdruck ihres musikalischen Vorstellungsvermögens,
ConBrio, Regensburg 2008, 280 S., € 39,00, ISBN 978-3-932581-89-2
Zwanzig Kompositionen fünf- bis sechsjähriger Kinder
bilden die Ausgangsbasis für eine Untersuchung, in deren Rahmen
sich Renate Reitinger dem kindlichen musikalischen Vorstellungsvermögen
nähert. Dabei wird die alltagstheoretische Annahme, der produktiv-kreative
Prozess des Komponierens sei erst nach der Ausbildung diskursiv-rezeptiver
Fähigkeiten möglich, auf den Kopf gestellt und ein intuitives
Wissen über Musik bei Kindern erkannt. Zentral steht der Begriff
der musikalischen Vorstellung, dessen zahlreiche alltagssprachliche
wie wissenschaftliche Konnotationen durch eine Fokussierung auf
die Charakteristika sowohl der „universellen Orientierungsmöglichkeit
des Menschen in der Welt (…) als auch den Kern der Verbindung
von Mensch und Musik“ (S. 11) neu handhabbar gemacht werden
sollen. Dies gelingt der Autorin, indem sie die vielschichtigen
Facetten des Begriffs auf ihren Bedeutungsgehalt sowie ihre Funktionen
hin untersucht und unter eine Grundbedeutung „psychischer
Vorgänge mit wahrnehmungspsychologischen Voraussetzungen und
Folgen“ (S. 37) fasst.
Der musikalischen Vorstellung kommen dabei besonders die Aspekte
der Zeitlichkeit von Musik, der Sprachähnlichkeit im Sinne
einer Vermittlung von Bedeutungsinhalten und der Strukturiertheit
von Musik zu, die gleichermaßen im rationalen wie intuitiven
Bereich des Vorstellungsvermögens positioniert sind. Neben
einer anthropologischen Aufarbeitung des musikalischen Vorstellungsbegriffs
aus historischer wie aktueller Sicht sind es besonders die entwicklungstheoretischen
Erkenntnisse und Befunde, die das Fundament der Untersuchung bilden.
Die Autorin ergänzt das für die Vorstellungsbildung zentrale
Element der Symbolfunktion in der Entwicklungstheorie Jean Piagets
durch die entwicklungstheoretischen Kategorien der Selbstempfindungen
und Bezogenheiten bei Daniel Stern und erläutert so den Rahmen
des gleichermaßen subjektiven wie sozial beeinflussten Vorgangs.
Anhand von Theorien und empirischen Befunden zum musikalischen
Vorstellungsvermögen zeigt sie, dass die Datenerhebungsmethoden
zum Teil zu großen Unterschieden bei den Rückschlüssen
auf den kindlichen Entwicklungsstand geführt haben, je nachdem
ob Fähigkeitstests zum Hören und Notieren, oder aber
Analysen der kreativen Produkte von Kindern durchgeführt wurden.
Methodisch wird der Weg eines phänomenologisch-hermeneutischen
Verfahrens zur Beschreibung, Analyse und Interpretation der Daten
gewählt. Gewonnen werden diese aus den Kinderkompositionen,
die als „Primärdaten“ diskursive Erhebungsverfahren überflüssig
machen und anhand derer folgende Forschungsfragen untersucht werden:
„Welches sind die Besonderheiten kindlichen Musikschaffens?“
„Verfügen Kinder über eine implizite, das heißt
von erworbenem Wissen unabhängige, Kenntnis der Strukturregeln
von Musik in einem generativen Sinne? Folgen sie in ihren Stücken
musikalischen Ordnungsprinzipien, auch wenn diese nicht im Sinne
von Begriffswissen repräsentiert sind?“
„Können bestehende musikbezogene Entwicklungskonzepte gegebenenfalls
ergänzt werden?“
„Welche Konsequenzen ergeben sich aus musikpädagogischer Sicht?“ (S.
126)
Als Anregung zur Komposition dienten in den vier untersuchten
Kindergruppen, die an Kompositionsworkshops der Autorin teilnahmen,
drei Ausgangsimpulse:
die Präsentation eines vielseitigen Instrumentariums, die
Aufforderung, ein Fabelwesen zu erfinden und musikalisch zu charakterisieren
und die Geschichte einer gemeinsamen Weltraumreise. Titel wie „Wellenmusik“ für
ein Stück mit einem selbstgewählten Instrument, „Zumutastutu“ für
die Vorstellung eines Fabelwesens oder „Flos“ für
einen Planeten im Weltraum wecken im Zusammenhang mit den detaillierten
und in sich schon künstlerischen Kindernotaten die Neugier
auf die Kompositionen, die man sich auf einer beiliegenden CD wünschen
würde.
Die Kinderkompositionen werden auf Klangmaterial und Spieltechniken,
Form und Verlauf sowie den Umgang mit Spannungsverläufen,
motivischen Verknüpfungsmodi und Genese von Zusammenhang hin
analysiert. Als Ergebnis entwickelt die Autorin ein Modell des
musikalischen Vorstellungsvermögens fünf- bis sechsjähriger
Kinder, das auf den Elementen der Bildung und Verknüpfung
von Sinneinheiten sowie deren Ausformung durch Aktivitäts-
und Intensitätskurven basiert (S. 213). Damit wird das musikalische
Vorstellungsvermögen als Orientierungsprinzip beschrieben,
das sich nonverbal erkennen lässt und Vermutungen über
ein in der präverbalen Phase der Entwicklung erworbenes musikalisches
Universalwissen zulässt. Mit der Diskussion der musikpädagogischen
Relevanz der Ergebnisse schließt der erste Teil des Buches,
ein zweiter Teil fokussiert den unterrichtspraktischen Nutzen durch
didaktisch-methodische Anregungen für alle Stadien des Kompositionsprozesses
mit Vor- und Grundschulkindern. Die Ideen zeichnen sich durch fantasievolle
Weiterführungen der ersten experimentellen Klangerkundungen
bis zur fertigen Komposition ebenso aus, wie durch die explizite
Integration des Übens und Präsentierens in den Arbeitsprozess.
Die Anregungen motivieren zur Anwendung im eigenen Unterricht und
machen schon beim Lesen Spaß.