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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 43
57. Jahrgang | Mai
Rezensionen-CD
Träumer im Horror vacui
Claude Loyola Allgén: Sonate für Solovioline (1989).
Ulf Wallin
BIS CD 1381/82
Schweden ist ein seltsames Land. Die wirklich substantielle Musik
hat man dort stets ebenso unterdrückt wie jede Form unangepassten
Individualismus’. So verwundert es ebenso wenig, dass die
eigentliche Entdeckung des obsessiven Symphonikers Allan Pettersson
außerhalb seiner Heimat stattfand, wie, dass man nur am Rande
die zukunftsweisende, höchste Maßstäbe setzende
Musik Anders Eliassons wahrzunehmen bereit ist. Was überall
gilt, scheint sich in Schwedens geistiger Windstille zu einer schwarzen
Wolke der Stumpfheit verdichtet zu haben: wahre Größe
ist bedrohlich für alles Mittelmaß und muss abgelehnt
werden.
Eine der verwegensten Gestalten der Musikgeschichte ist Claude
Loyola Allgén, geboren 1920 in Kalkutta, aber in Schweden
aufgewachsen, früh im musikalischen Handwerk ausgebildet und
Mitglied der fortschrittlichen Monday Group, wo er allerdings ein
Außenseiter blieb, den die anderen als „intellektualistisch“ empfanden.
1950 trat Allgén zum Katholizismus über und machte
am Innsbrucker Jesuitenkolleg die Priesterausbildung, ging jedoch
1961 nach Schweden zurück, ohne die Priesterweihe empfangen
zu haben. Dort gestaltete sich der Rest seines äußeren
Lebens zu einem erbärmlichen Misserfolg. Ulf Wallin, der begnadete
Geiger, der nun erstmals Allgéns im Jahr vor seinem Tod
entstandene Soloviolinsonate eingespielt hat, was die „mit
Abstand schwierigste musikalische und technische Herausforderung
meines bisherigen Lebens“ war, berichtet in dem sehr umfangreichen
und in der Fülle der Informationen dem Gegenstand angemessenen
Booklet: „Allgén lebte in absolut ärmlichen Verhältnissen.
Da er Rechnungen selten oder nie pünktlich begleichen konnte,
wurde sein Haus von der Wasser- und Energieversorgung abgekoppelt.
Allgén schmolz Schnee in der Badewanne, heizte einen Ofen
mit alten Zeitungen, die er in den umliegenden Bahnhöfen sammelte
und beleuchtete sein Haus mit Kerzen. Am 18. September 1990 ging
dieses Haus in Flammen auf, in denen Allgén umkam.“
Nun also die Soloviolinsonate, ein Werk fürs Buch der Rekorde:
in drei Sätzen, insgesamt über 160 Minuten lang, davon
der Allegro moderato-Kopfsatz alleine 73 und das Adagio 59 Minuten.
Was für Musik ist das, die dieser Geächtete in seiner
Isolation schrieb? Sie ist hochchromatisch, kennt ungeachtet ihrer
Länge keine Ruhepunkte, erstreckt sich in ihrer flackernden
Stilistik über die Zeiten hinweg wie ein reanimierter Archäopteryx.
Ich übertreibe nicht mit der Behauptung, dass Allgéns
Sonate angesichts ihres endlos modulierenden, keine markanten Einschnitte
zulassenden Charakters eigentlich kurz geraten ist. Das Werk könnte,
indem es seinem tatsächlichen Wesen gerecht wird, Tage dauern
oder auch ewig. Allgén ist in die Schattenbereiche der „Welt
neben der Welt“ geraten, hat sich in dieser drogenrauschhaften
Traumwelt verirrt. Er ist ein Verlorener, der kein Interesse hat,
je wieder zurückzufinden. Diese Sonate ist ein Trip in verlassene,
morbide Regionen fast anorganischen Ursprungs anmutender Abgründe.
Allgéns energetische Wahrheit ist die des Horror vacui (dies
der Titel seines auf diese megalomanische Sonate folgenden letzten
Werks), der Todesangst vor der Leere, die in unendlichen Phrasen
das Licht flieht.