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nmz-archiv
nmz 2008/05 | Seite 44
57. Jahrgang | Mai
Noten
Langsamkeit und leise Klangwelten
Harald Weiss’ neues Streichquartett: ein typisches Kind der
Postmoderne
Harald Weiss: „Stille Mauern“ für Streichquartett
und Zuspielbänder. Partitur und Stimmen, 2 CDs, Schott ED
9963 (2006)
Langsamkeit und im Wesentlichen die leiseren (stilleren) dynamischen
Dimensionen sind prägende Merkmale des im Frühjahr 2006
erschienen Streichquartetts von Harald Weiss. Bewusst setzt er
darin einen Kontrapunkt zum heutigen „Zeitgeist, in dem möglichst
viele Informationen in kürzester Zeit untergebracht werden
sollen“ (Harald Weiss). In den „Stillen Mauern“ gelingt
ihm eine Komposition, die trotz oder gerade wegen des langsamen
Zeitmaßes und der – bis auf wenige Ausnahmen – leisen
Töne einzelne Motive, Klänge und Klanggeflechte und deren
Entwicklung den Zuhörer von Beginn an in ihren Bann ziehen.
Die Spannungsverläufe vollziehen sich stetig. Abrupte Wechsel
der Parameter, die den Adrenalinpegel in die Höhe schnellen
lassen, gibt es nicht. Die Eindringlichkeit dieser Musik entspringt
der Beständigkeit des Flusses von harmonischen und motivischen
Ereignissen, in dem faszinierenden Spiel mit Klangfarben und der
dramaturgisch geschickten Nutzung des Raumklanges mit Hilfe einer
elektroakustischen Anlage. Die akustischen Gegebenheiten von Kirchenräumen,
für die die „Stillen Mauern“ in erster Linie gedacht
sind, verstärken diesen Effekt und ermöglichen die vom
Komponisten beabsichtigte Verschmelzung von Melodien zu Harmonien,
die Verdichtung rhythmischer Strukturen zu oszillierenden Geflechten
und das Hören und Verfolgen von Klang und Nachklang bis hin
zum Verhallen. Einspielungen mit Hilfe der elektroakustischen Anlage
erweitern die klanglichen Möglichkeiten eines Streichquartetts
und wirken wie musikalische Grenz-überschreitungen und Horizonterweiterungen,
in denen sich die Wirkungsbreite von Harald Weiss als Komponist
und Interpret widerspiegelt. Die klanglich und ästhetisch
mit dem Streichquartettklang verwobenen Kirchenglocken, bulgarische
Frauenstimmen, Flüsterstimmen mit Chor, Moscheerufe et cetera
verbinden die musikalische Bandbreite eines durch die Welt gereisten
Percussionisten und seine dramaturgische Dimension als Bühnenkomponist
mit seinem sehr geglückten Rückgriff auf die traditionsreiche
Form des Streichquartetts.
Da Weiss bewusst auf virtuose Elemente und komplexe rhythmische
Schwierigkeiten, wie sie in zeitgenössischer Literatur oft
anzutreffen sind, verzichtet, sind die „Stillen Mauern“ durchaus
auch für ambitionierte Liebhaber spielbar. Große klangliche
Präsenz und Variabilität sind allerdings unabdingbar
für eine überzeugende Interpretation. Ebenso ein Intonationskonzept,
das den Gegebenheiten der Tonalität ebenso Rechnung trägt
wie der erweiterten (freien) oder der sich auflösenden Tonalität
in den Passagen, wo Klangfarben und -gebilde die Dramaturgie prägen.
Die subtile Intensität der Musik, ihre langen Spannungsbögen,
die teilweise sehr langsamen Tempi und die dynamischen Parameter
(bis hin zum al niente) stellen zudem hohe bis höchste Ansprüche
an das instrumentale Handwerkszeug der Interpreten.
Die harmonischen Strukturen der „Stillen Mauern“ bewegen
sich vorwiegend in der Tonalität, „die sich mitunter
aufzulösen scheint, aber immer wieder in ein Zentrum zurückkehrt“ (Harald
Weiss). Insbesondere dieser Umstand und die bewusst gewählte
rhythmische Schlichtheit lassen Protagonisten (aus der Szene) der „Neuen
Musik“ möglicherweise die Stirn runzeln. Die „Stillen
Mauern“ entziehen sich allerdings Etikettierungen und schablonenhaften
Zuordnungen wie „Traditionalismus“ oder „New
Age“. Am ehesten passt der großzügig Vieles einschließende
Begriff der Postmoderne. Zum Verständnis der Musik trägt
er aber kaum bei.