1998
|
|
Kulturpolitik
|
Tagebuch |
Gefühlsgeneration? Die vorgesehene Diskussion Generationswechsel in der Avantgarde-Szene? fiel leider aus Kommunikationsprobleme verhinderten die Vorbereitung. So blieb eine Kernfrage an das Festival ex negativo 1998 des DeutschlandRadios Berlin verbal unbeantwortet: Signalisiert der dialektisch so hintergründige Titel diesmal, daß eine neue Generation im Kommen ist, mit einer ganz anderen Musik? Ich lese, daß in der verkrusteten Avantgarde-Szene unverdrossen die Schlachten der Vergangenheit geschlagen werden. Wie lange vergangen ist die Avantgarde-Vergangenheit? 20, 30 Jahre? Welche Konflikte sind gemeint? Boulez contra Cage? Hier der frühe Stockhausen, dort Morton Feldman? Vinko Globokar gegen George Crumb? Helmut Lachenmann gegen Philip Glass oder gar Adornos hochbetagte Irrtümer? Ein Konzert mit dem tüchtigen Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter dem begabten Stefan Asbury präsentierte vier britische Komponisten, die vorrangig für das geplante Diskussionsthema stehen sollten: Oliver Knussen, Julian Anderson, Thomas Adès geboren 1971, somit der jüngste, als bedeutendes Talent angesehen und Colin Matthews, Jahrgang 1946, der älteste. Alle vier beherrschen ihr Handwerk hervorragend, alle wissen sich virtuos in Klangfarben auszudrücken, sie gehen unbefangen mit Vergangenem, zuweilen mit Abgenutztem um. Für jede Hör-Erwartung gab es wohl Nahrung; mir imponierte die umfangreiche, absichtsvoll kompakt gesetzte Trauermusik von Matthews (Memorial), doch den Vergleich mit Boulez Rituel in memoriam Bruno Maderna von 1974/75 sollte man besser nicht näher bedenken. Ein jüngerer Kritiker bemerkte hinter dem britischen Musikangebot Große Gefühle. Der Generationswechsel schließt, wie jeder Wechsel, auch groß gefühlte, ja opulente Nacktheit ein.
Schularbeiten Was wir in den 50er Jahren Versöhnung nannten, hier die von Alt- und Neu-Bayreuth, personifiziert in Heinz Tietjen und Wieland Wagner, war partielle Blindheit. In Hamburg, wo der betagte Tietjen nach Rennert kurzzeitig Intendant war, gab es im Dezember 1957 als Probelauf für Bayreuth 1958 einen musikalisch klug disponierten, zupackenden und dennoch maßvollen Lohengrin, vom Wagner-Enkel als oratorisches Theater angelegt, problematisch in Pose und Bild. Meine Selbstzitate, vor allem die zu Tietjens Dirigat, erscheinen mir heute nicht heller als das Werk. Dieses meint, lerne ich von dem Hamburger Politologen Udo Bermbach, in Kenntnis des sensualistischen Materialismus Feuerbachs die scheiternde Reform des Lohengrin als republikanischer Fürst wie visionärer Dichter: Mit Lohengrin kommt das Prinzip der Kunst als ein ordnendes unter die versammelten Menschen und löst die Politik ab. Das Frageverbot steht für die Unbefragbarkeit ästhetischer Erfahrung. Das dem neuen Hamburger Lohengrin, inszeniert von Peter Konwitschny, fundierende Konzept berührt sich mit Bermbachs Thesen, ohne sie zu nennen. Lohengrin träume die Hochzeit des Realen mit dem Utopischen: Das ist der Traum des Kindes von der heilen, geheilten Welt. Der Traum muß scheitern, wie im sozialen Lernmodell des Klassenzimmers auf Hamburgs Staatsopernbühne so auch in der geschichtlichen Wirklichkeit. Ein verspäteter Kindertraum auf dem Hintergrund weltpolitisch opportuner Verdrängung war die Hamburger Versöhnung von 1957. Heute sind wir klüger, aber sind wir es wirklich? Bermbachs Text Der Fürst als Republikaner ist ein Originalbeitrag zu dem Sammelband Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht Politik und Gesellschaft in der Oper (Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1997). Zu den grundlegenden Prämissen des Autors gehört offensichtlich, daß er Wagners Antisemitismus zwar nicht bezweifelt, aber ausklammert. Auch diese Spaltung ist ein Traum, der scheitern muß. Wagners Antisemitismus ist Teil jener Geschichtslast, die in den Zivilisationsbruch mündete. Durch diese Schule müssen wir durch, da helfen keine Essays und keine Denkmäler. Dem Zeitgeist entgegen Exklusiv für die Neue Musik: Ensemble Modern Orchestra. Jubel. Die maßstabsetzende Musizierpraxis des Ensemble Modern, eine präzise ausbalancierte Verbindung von Individualität und Einbindung ins Kollektiv, soll auf die Formation des Orchesters übertragen werden. Vorhandene Werke der Neuen Musik sollen exemplarisch erarbeitet, neue Werke für Orchester angeregt werden. Die Aufstellung ist nicht fixiert, Elektronik wird einbezogen, visuelle Elemente können eine Rolle spielen. Stilistisch wird mit Helmut Lachenmann und Heiner Goebbels auf der ersten Tournee, mit Charles Ives und der amerikanischen Jungmoderne auf der zweiten ein denkbar weites Spektrum abgeschritten. Die Finanzierung erfolgt, für die ersten drei Jahre, ausschließlich über private Stiftungen und die EXPO 2000 Hannover GmbH. Also nochmals Jubel. Wirklich und vorbehaltlos? In den 50er und 60er Jahren gab es erbitterte Streitgespräche darüber, ob das Sinfonie-Orchester noch zeitgemäß sei. Karlheinz Stockhausen sprach sich in Donaueschingen vehement gegen diese traditionsgesättigte Vereinigung aus. Die kritisierte Starrheit der Besetzungen ist angesichts der Musizierhaltung des Ensemble Modern kein Thema, aber die Einstellung der Komponisten hat sich von dem Ideal hochgradig flexibler Ensembles gelöst. Was komponiert wird, hat sich der Existenz des in der Hochromantik zur Blüte gelangten Sinfonie-Orchesters angepaßt. Indem die Neugründung dem Zeitgeist entgegenwirkt, kommt sie ihm auch ein gutes Stück entgegen.
Tempo vivace Die Zeiten ändern sich rapide. War Bayreuth gar zur Nazizeit ein heimliches Widerstandsnest, und wir erfahren es erst nach und nach? Ich traute meinen Augen nicht, als ich in der Überschrift eines zweiteiligen Artikels über Heinz Tietjen in der Hauszeitschrift der Staatsoper Unter den Linden den Chef der von Göring favorisierten Kunststätte und künstlerisch in Bayreuth Verantwortlichen als Widerstandskämpfer eingestuft fand. Die Chefdramaturgin Micaela von Marcard hat bei ihren Recherchen im ehemaligen Document Center keine Mühe gescheut, doch der Grund für die zweite Entnazifizierung des einflußreichen Theaterleiters, Dirigenten und Regisseurs wird nicht einsichtig. Wagner-Urenkel Gottfried nennt Tietjen nazitreu und, mit Anspielung auf Gründgens, den Mephisto der Nazi-Opernwelt. Das ist in solcher Zuspitzung gewiß übertrieben, doch das Bayreuther Wirken Tietjens harrt noch der Aufarbeitung. In Berlin hat er sich vor allem nach der Machtübernahme Schwierigkeiten eingehandelt, als er zum Beispiel den herrlichen deutschen Tannhäuser von Klemperer und Fehling in rein orientalischer Aufmachung öffentlich verhöhnen ließ: so der Musikkritiker Walter Abendroth, nach dem Krieg Feuilletonchef der Zeit. Die Kontinuität der Karrieren ist immer wieder erstaunlich; sie bezieht sich auch auf Gerhart von Westermann, vor und nach dem Krieg Intendant des Berliner Philharmonischen Orchesters, zusammen mit Tietjen Begründer der Berliner Festwochen. Tietjen hat nach 1945 die Meinung vertreten, daß die Nazis sich in künstlerische Dinge wenig eingemischt hätten. Purer Hohn angesichts der Vertreibung und Ermordung jüdischer Künstler oder Retusche der eigenen Rolle? Kurz vor dem Jahrhundertende werden weiße Etiketten im Tempo vivace gefertigt. Vivace ist der Titel des geschätzten Staatsopern-Journals. Claus-Henning Bachmann |
Links |
@ leserbrief @ nmz info (internetdienste) und hilfe |
||
@ KIZ, das Kultur-Informations-Zentrum der nmz |
@ aktuelle ausgabe |
@ anzeigenpreise
print |
|
Home |
© copyright 1997 ff. by |
Postanschrift |