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1998
47. Jahrgang
Ausgabe 4
April

© nmz und
autoren 1998

  nmz - neue musikzeitung

Berichte
Seite 31

Autor:
Gerhard Rohde

Foto: Charlotte Oswald

 

Ein neuer Gesang aus ferner Zeit und fernem Land

Peter Eötvös komponierte seine erste Oper: „Trois Sœurs“ nach Tschechow in Lyon uraufgeführt

eotvos.jpg (16517 Byte)Die Opéra de Lyon, vor kurzem in den Stand einer Opéra National erhoben, darf als die progressivste Musikbühne Frankreichs gelten. Die Spielplanstatistik weist seit 1969 fünfundzwanzig Uraufführungen aus, dazu zahlreiche französische Erstaufführungen, wie vor kurzem die eindrucksvolle Darstellung von Busonis „Doktor Faust“ durch den Regisseur Pierre Strosser und den Dirigenten Kent Nagano (siehe nmz 12/1997). Kent Nagano und dem langjährigen Intendanten Louis Erlo vor allem ist das moderne Profil des Hauses zu verdanken. Jetzt erfuhr die erste Oper von Peter Eötvös, die „Trois Sœurs“ nach Tschechows gleichnamigem Schauspiel, in Lyon eine fesselnde Premiere. Peter Eötvös zählt als Komponist und als Dirigent zu den avanciertesten Persönlichkeiten der neuen Musik. Daß er Tschechows Stück nicht in eine gängige Literaturoper umformen würde, durfte man von vornherein erwarten. Die Beteiligung eines japanischen Inszenierungsteams führte zu einer zusätzlichen Verfremdung des Stoffes. Was bleibt dabei von Tschechows Drama bewahrt?

Zunächst wird das Theaterstück gründlich zerlegt. Es beginnt mit dem vierten Akt und endet mit mit dem vierten Akt. Dazwischen wirbeln Szenen aus zweitem und drittem, viertem und erstem Akt munter durcheinander. Der erst kürzlich verstorbene Claus H. Henneberg schrieb für Eötvös das Libretto, das der Komponist von sich aus noch weiter komprimierte. Das ästhetische Kon-zept hieß: keine tradierte Literaturoper, vielmehr eine völlig neue Anordnung des Materials. Keine dem Schauspiel folgende Erzählweise, sondern eigenständige Montage von Figuren und Situationen. Das Geschehen im Drama wird betrachtet aus der Sicht dreier Personen: der beiden Schwestern Mascha und Irina und des Bruders Andrej. Die dritte Schwester, Olga, ordnet sich den übrigen Figuren zu. Sie hat schon resigniert, also auch keine Geschichte mehr. Worüber man, aus der Sicht des Schauspiels gesehen, streiten könnte. Tschechow „erzählt“ im strengen Sinn überhaupt keine Geschichte in diesem Stück (auch in den meisten seiner anderen Schauspiele nicht), er öffnet vielmehr für einen Moment den Blick auf eine gesellschaftliche Situation, zeigt das Panorama verschiedener Figuren, ihre psychischen Dispositionen. Die Statik ist in gewisser Weise schon im Schauspiel vorgegeben. Die Oper verstärkt diesen Charakter, biegt ihn jedoch nicht um.

Anderes wird für die Dramaturgie der Oper wichtiger. Oper wird von vielen Komponisten heute anders definiert. Veränderte kompositorische Techniken, Neuerungen der Klangsprache, Anordnungen des Klangmaterials gehören auch dazu, aber wichtiger ist die Auflösung der überkommenen Opernform, bestehend aus einem dramatisierten und vokalisierten Erzähltext sowie der instrumentalen „Begleitung“. Raumgliederungen, Zeitverläufe gewinnen an Bedeutung. Adriana Hölszky komponiert in ihrer „Tragödia“ eine Oper nur für Orchester und Bühnenbild, die dramatis personae bleiben bestenfalls eine Fiktion. Andere Komponisten, etwa die Französin Betsy Jolas oder Eötvös selbst in seiner „Chinese Opera“ schrieben „Opern“ nur für Orchester, deren Aktionen allein aus der komponierten musikalischen Gestik erwuchsen. Solche Verknüpfungen von musikalischen Aktionen im Raum, organisierten Zeitabläufen, komponierten Gesten sind zwar nicht neu, gewinnen aber für das gegenwärtige Musik-Theater-Komponieren zunehmend an Bedeutung. Es bedeutet zugleich, daß sich die Opern-Komponisten des zur Verfügung stehenden Materials neu vergewissern, neue Dramaturgien entwickeln für einen erweiterten Formenkanon des Musik-Theaters, zu dem dann auch neue Ausdrucksmittel etwa durch die Medienkunst treten können.

Zu seinen „Trois Sœurs“ regte den Komponisten ein Satz an, den ausgerechnet die „ausgeschiedene“ älteste Schwester, Olga, spricht: „Für die Menschen, die nach uns kommen, werden sich unsere Leiden in Freude verwandeln, und sie werden an uns, die wir heute leben, mit Worten der Güte und Gefühlen der Dankbarkeit denken“. Eötvös setzt diese „Nachkommen“ mit uns gleich und gewinnt damit ein konkretes Thema: „Hat sich das Leiden in Freude gewandelt?“ Und wenn ja: Welche „Freude“ könnte das sein? Ein ästhetisches Vergnügen beim Betrachten eines szenischen Vorgangs, der sich 100 Jahre später in und mit Musik verwandelt? Und die nächste Frage: Verwandelt sich Tschechows „Drama“ überhaupt? Ist es nicht wie ein Durchschreiten einer Zeitmaschine, in der wir zurückgleiten oder die alten Figuren zu uns heranrücken? Die Zeitstrukturen in Tschechows Dramatik sind bis heute das Interessanteste, Aufregendste: die komplizierte Relevanz von Fortschreiten und scheinbarem Stillstand. Diese Zeitstruktur gewinnt auf den Hintergrund einer bestimmten gesellschaftlichen Situation im Rußland vor 100 Jahren projiziert, gleichsam aktuelle Bedeutung. Das existentielle Grundgefühl der Tschechow-Menschen greift über in unsere Tage, zu den Menschen-Chiffren eines Beckett und Ionesco. Das Grundgefühl des Leidens wird quasi abstrakt.

Eötvös’ Tendenz zielt denn auch immer wieder auf die Abstraktion des Konkreten, auf Distanzierung und Verfremdung, ohne dabei die emotionale Anteilnahme an den Figuren und ihrem „Schicksal“ auszuschließen. Eötvös hält hier auf äußerst kunstvolle Manier, nicht zuletzt durch die Expressivo-Substanz seiner Musik, die Balance, selbst wenn durch die Benutzung der russischen Sprache sowie die Besetzung der drei Schwestern mit männlichen Sänger-Darstellern die Verfremdung zusätzlich verstärkt erscheint. Bei späteren Inszenierungen des Werkes an anderen Bühnen soll es auch eine Besetzung mit Sängerinnen geben, was mit Sicherheit zu ganz anderen Belichtungen führen dürfte.

Die brillante Uraufführung an der Opéra National de Lyon erbrachte noch eine weitere Stilisierung, über die russische Sprache und die Männerbesetzung hinaus: Die Inszenierung war dem japanischen Choreographen Ushio Amagatsu anvertraut worden. Mit seinem Raumbildner Natsuyuki Nakanishi und der Kostümbildnerin Sayoko Yamaguchi verwandelte er Eötvös’ Tschechow-Adaption in ein kunstvoll zelebriertes, fernöstliches „Zauber-Theater“, mit ausgefeilter Gestik, konzentrierten Bewegungen, subtil organisiert in den Abläufen vor und zwischen drei hohen, sich drehenden, delikat bemalten Gaze-Wänden, die das optische Erscheinungsbild der Szene dominierten. Seltsame Wechselbeziehungen: Tschechows opernstilisierte Figuren gewannen in der zweiten Stilisierung eine neue, andere Würde des Leidens und der Klage, eingefaßt in Klarheit und Präzision des Ausdrucks.

Eötvös’ Musik korrespondiert auf frappierende Weise mit dem „Sichtbaren“. Sie ordnet den einzelnen Personen bestimmte charakterisierende Instrumente und Instrumentalkombinationen zu: Englischhorn für Irina, Klarinette für Mascha, Altflöte für Olga, das Fagott für Andrej. Die drei Schwestern korrespondieren als Trio mit einem Streichtrio. Die diesen Personen zugewiesene Musik wird von einem kleineren Ensemble im Orchestergraben gespielt, während die dramatischen Situationen, der effektvolle Ausbruch, die geräuschhaften Montagen der „Außenwelt“ (das große Feuer) von einem größeren Orchester auf der Hinterbühne realisiert werden. Kent Nagano als Hauptdirigent vorn an gewohntem Platz und Peter Eötvös selbst im Hintergrund organisierten die musikalischen Abläufe souverän, Ergebnis auch intensiver Probenarbeit, wie sie an diesem Opernhaus noch möglich ist.

Die Farbigkeit der Musik, die Sicherheit in den instrumentalen Kombinationen, die präzis ausgehörte Klanglichkeit, der ausdrucksvolle, oft madrigaleske Gestus der Vokalpassagen – das alles fügt sich zu einer bestechend klaren Partitur. Manchmal klingt es schon beinahe verdächtig „schön“, aber es ist eine Schönheit, die aus Materialerkundung neu gewonnen wurde. Sie besitzt oft etwas schmerzliches im Klangausdruck, eine ferne Sehnsucht, die sie für die Gegenwart wieder zum Erklingen bringen möchte. Dieses „sehnsuchtsvolle“ Expressivo scheint auch in den Singstimmen nachzutönen: Alain Aubin, Vyatcheslav Kagan-Paley und Oleg Riabets als Olga, Mascha und Irina führen ihre Countertenor-Stimmen mit zartem Ausdruck und brillanter Linearität. Albert Schagidulin als Andrej und Dietrich Henschel als Baron Tusenbach ragen aus dem insgesamt hervorragend besetzten Ensemble markant heraus. Wie von fern erklingt zu Beginn und an anderen Stellen ein Akkordeon auf: als „russisches Zitat“, aber auch als eine Klangbotschaft aus einer anderen Welt, nach der sich Tschechows und jetzt auch die Menschen des Peter Eötvös zu sehnen scheinen.

Gerhard Rohde

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