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1998
47. Jahrgang
Ausgabe 4
April

© nmz und
autoren 1998

  nmz - neue musikzeitung

Berichte
Seite 29

Autor:
Reinhard Schulz

Foto: Andreas Birkigt

 

Registratur des Werdens

Schnebels Oper ,,Majakowskis Tod – Totentanz“

Achim Freyers Bühne ist kahl. Eine Lichtlinie zieht durch den dunklen Raum, zunächst senkrecht, dann waagrecht, schließlich schräg nach hinten geführt als Koordinate von Zeit und dem ewigen Werden und Vergehen. Die graphischen Elemente sind klar. Wir kennen sie aus der Plakatkunst der jungen Sowjetunion: Da, in den Zwanzigern, wo alles Leid, alle Entbehrungen mit Stolz noch getragen wurden, war man sich noch einig, an einer Utopie der Gesellschaft zu arbeiten.

BERTITE.jpg (9710 Byte)Selten hatte Kunst so einen Freiraum verspürt wie damals. Experimente und Bodenständiges reichten sich die Hand und waren überzeugt, an einem Strang zu ziehen. Organisationen im Dienste des Fortschritts schossen aus dem Boden, die manchmal nicht mehr untereinander gemein hatten als die Worte sozialistisch oder revolutionär. Ab den Dreißigern dann zog Stalin die Zügel an, und alles versank in Kälte und erzwungenem Schweigen. Der Dichter Wladimir Majakowski hatte das alles miterlebt und mitgetragen. Er war zum Poeten der Revolution geworden – und eine geeignetere Spiegelgestalt und Inkarnation hätte sich die Revolution nicht wünschen können. Denn ihr Aufschwung und Niedergang bildete sich fast deckungsgleich im Leben Majakowkis nach. Der Sänger des Aufstandes, des freien, ungezügelten Lebens, des Massenheroismus wie der schrankenlosen Subjektivität, zerbrach wie die utopischen Ideale der Revolution. Unglückliche Liebe, körperlicher Niedergang, wachsendes Unverständnis seitens seiner Anhänger, zunehmende Kritik durch die Partei – all dies führte 1930 zum Suizid. Er selbst akzeptierte diese Tat nicht als Lösung, sondern nur als Beendigung der eigenen Rat- und Ausweglosigkeit. Gleichwohl hat seine Tat etwas Exemplarisches: die Revolution ist zum Scheitern verurteilt, weil die menschlichen Koordinaten ihr (noch) nicht entsprechen. Das ist die Botschaft von Dieter Schnebels Oper, sie ist sein Resümee aus den Erfahrungen des zurückliegenden Jahrhunderts, in dem letztlich alle Revolutionen scheiterten oder zumindest bis zur Unkenntlichkeit verbogen wurden.

Hierin berührt sich Schnebels Werk, das er wohl nicht nur in bezug auf Genesis und jetzige Formanlage, sondern auch wegen des inhaltlich getroffenen Statements als Opernfragment (auch die Revolutionen, auch Majakowskis Leben haben diesen fragmentarischen, unabgeschlossenen Charakter) bezeichnete, auf merkwürdig signifikante Art mit Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“. Hier ist es das Schicksal Gudrun Ensslins, der ebenfalls (suizidal?) gescheiterten Revolutionärin, das mit verwandter Symbolkraft über unserem Jahrhundert, unserer Gesellschaft steht. Die Kälte der Gesellschaft, sei es die der stalinistisch indoktrinierten, sei es die der glatt kapitalistischen Profit- und Nutzendenken unterworfenen, läßt Utopien, die Idee des befreit Besseren nicht zu. Wenn zwei der exponiertesten Komponisten Europas am Ende des Jahrhunderts zu diesem Ergebnis vordrangen, dann sollte dies von uns nicht wie eine lästige Aktennotiz zur Seite gelegt werden. Es ist Indiz der Gegenwart.

Schon der Titel von Schnebels Oper weist eindeutig auf Zweiteiligkeit, auf den Schritt vom Konkreten zum Abstrakten. In drei Szenen widmet sich das Stück Episoden aus dem Leben Majakowskis – einer tribunalartigen Lesung vor einem unwilligen Publikum, einer Szene mit der Geliebten Lilja Brik, der Frau des Literaten Ossip Brik, und schließlich dem testamentarischen Vermächtnis des Dichters. Der individuelle Tod weitet sich dann zum großen Totentanz, Einzelschicksale verschwinden hinter dem allumfassenden Stirb und Werde. Die ganze Menschheit seit ihrem ersten Aufflackern, ja die ganze Evolutionsgeschichte steht nun an der Stelle Majakowskis – und protokollarisch werden Zunahme der Menschengattung und mit ihr die immer üppigere Zunahme des Todes verlesen. Denn alles Geborene taugt letztlich nur, auch wieder in den Ozean des Verschwindens einzutauchen. Vor dieser Unbarmherzigkeit relativiert sich das Schicksal Majakowskis – und dennoch ist es dieses, die von ihm formulierten Widersprüche, woran wir heute zu arbeiten haben. Nur, so weist Schnebel nachdrücklich darauf hin, dürfen wir dabei mit der partiellen Blindheit des Weltenverbesserers nicht das allgemeine Gesetz alles Lebens aus dem Auge verlieren. Versöhnt haben sich hier der an Bloch geschulte Revolutionär Schnebel, der Utopist, der Widerständige, mit dem Theologen Schnebel, der auf das Unabänderliche unseres Daseins pocht. Es ist wohl mehr als nur Versöhnung, Schnebel weist darauf hin, daß alles irdische Tun seinen Makel darin hat, daß es meint, auch in diesen höheren Seinsverlauf eingreifen zu können. Das Scheitern ist so Gesetz, unser Tun hat einzig Gelingen, wenn unsere Gebundenheit akzeptiert wird.

Schnebel doppelt die Protagonisten Wladimir Majakowski und Lilja Brik in Gesangs- und Sprechrolle (Matteo de Monti/Robert Podlesny beziehungsweise Christine Hansmann/Anna Clementi). Das Spiegelpaar steht für Utopie und Realität, Wollen und Können, Traum und Tag, zugleich rekurriert Schnebel auf die Trennung von Gesang und Rezitativ in der barocken Oper. Auch sonst bestimmen traditionelle Elemente die Anlage zumindest des ersten Teils. „Majakowskis Tod“ ist zwar keine Handlungsoper, doch zumindest eine Bilderfolge, wie sie die Oper unseres Jahrhunderts mannigfach kennt. Freilich wird diese quasi intakte Operngestalt durch den zweiten Teil, den langen Marsch der Menschheit von Leben zum Tod, aufgebrochen (eine Fülle von Berufen schreitet da die schräge Linie wie in einer Modeschau des Vergehens ab, von der Braut bis zum Soldaten, von der Hausfrau bis zum Callgirl – das Freyer-Ensemble, wunderbar „sortentypisch“ ausgestattet von der Kostümbildnerin Maria-Elena Amos). Dieser Teil war schon vor gut einem Jahr in Berlin uraufgeführt worden, Schnebel hat ihn für die Oper noch einmal überarbeitet. Hiermit tritt das Werk aus dem zu Beginn geradezu demonstrativ verfestigten Opernrahmen und schreitet ins gattungsübergreifend Allgemeine. Schnebels Anliegen, das revolutionäre Tun im übergeordneten Rahmen von Sein und Vergehen zu sehen, greift somit auch auf die formale Anlage des Werks über.

Die Dichte der Botschaft, die großartigen Korrespondenzen von Aussage, formaler Anlage, Traditionsbezügen und deren Brechung machen das Werk fraglos zu einer der wichtigsten musiktheatralen Arbeiten dieses Jahrhunderts. Die philosophische Grundierung der Gattung Oper lehnt sich dabei in vielerlei Hinsicht an Schönbergs „Moses und Aron“, aus anderen Blickwinkeln an Luigi Nonos „Prometeo“ an. Doch ich glaube, daß Schnebels Arbeit nicht ganz an diese heranreicht. Schnebel ist großartig in der Herstellung von assoziativen Bezügen, und der Majakowski-Teil montiert eindringlich und überlegen Textpassagen von Majakowski ineinander. Über das ganze Werk lagert sich ein dichtes Netz aus inhaltlichen Querverweisen, so als müsse die komplexe Ordnung Gottes als Auftrag zum Tun und als Einbindung in Sein und Nichtsein nach-gestellt werden. Mit der enzyklopädischen Systematik eines Linné sucht Schnebel die Bestimmungen unserer Entität (sowohl heute als auch immer) gattungsmäßig zu ordnen. Die Mittel der Auflistung, des Abzählens, wie sie im „Totentanz“ geradezu zelebriert werden, zählen fundamental zu dieser Art wissenschaftlicher Sichtung.

Aber die Musik kommt hier über weite Strecken zu kurz. Im Majakowski-Abschnitt wirkt sie streckenweise merkwürdig unbeteiligt, sie reiht sich additiv ins Geschehen ein, ohne selbst eine Vertiefung der Mitteilung anzustreben. So bleibt sie trotz einiger exaltierter Kantilenen im Grunde oft nur passive Trägerschicht der Text- und Sinnmontagen. Großartig wird sie u fast einzig im Übergang von Majakowskis Tod zum Totentanz. Da läßt die Musik einiges von ihren Kraftpotentialen ahnen. Tiefe schnarrende Töne, vom Freiburger Experimentalstudio liveelektronisch verräumlicht, mahnen an urgründige Todeszeremonien und verdüstern requiemsartig das Licht. Und das setzt sich fort im anschließenden Marsch in die Unendlichkeit. Eine Aufwärtslinie setzt sich im Ohr fest, wie eine immer wiederholte Erinnerung, ein memento mori. Diese Dichte musikalischer Versinnlichung hätte man sich – freilich in anderer dramatischer Brechung – auch für den ersten Teil, also das eigentliche Musiktheaterwerk gewünscht. So aber mußte man ein Ungleichgewicht, ein Moment des Unstimmigen konstatieren, das auch durch den Verweis auf den Fragmentcharakter des Werks nicht zu begründen ist. Die Polarität von Konvention und Ausblick, von Individuum und Allgemeinheit, von revolutionärem Anspruch und der Relativität allen Tuns hätte musikalisch eine schärfere, mehr in die Tiefe gehende Zeichnung verdient gehabt. Der Dirigent Johannes Kalitzke ist für diesen Eindruck meines Erachtens nicht verantwortlich zu machen. Die große und ernste Botschaft des Werks wurde verstanden. Zutiefst zu ergreifen, so daß sie schockartig festsitzt – was nicht zuletzt Aufgabe der Musik gewesen wäre – vermochte sie jedoch nicht.

Reinhard Schulz

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