1998
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Dossier
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Das fliegende Klassenzimmer im Cyberspace
Internet als wissenschaftliches Kommunikationsmedium Chancen, Visionen, Perspektiven |
Weltweit etabliert sich das
Internet als globales Informations- und Kommunikationssystem für wissenschaftliche
Zwecke; Forscher, Lehrende und Studierende tauschen Informationen aller Art, sichten
elektronische Zeitschriften und Bücher oder befragen die Wissensbestände der großen
Bibliotheks- und Institutsserver. Lediglich in den Geisteswissenschaften, hier
insbesondere in Deutschland, begegnet man den neuen Kommunikationsmedien vielfach immer
noch mit unverhohlener Skepsis, ohne daß eine kritische Auseinandersetzung stattgefunden
hätte. So wurde mit dem Virtuellen Musikseminar an der Universität Osnabrück im Wintersemester 96/97 auf Initiative und unter der Leitung von Prof. Bernd Enders erstmals eine Lehrveranstaltung der Musikwissenschaft/Musikpädagogik primär im Internet abgehalten, die zur Evaluierung der Möglichkeiten von Lehren und Lernen per Internet dienen sollte. Nach zwei einführenden Sitzungen wurde auf die leibliche Anwesenheit der Studenten und des Dozenten im Hörsaal verzichtet. In diesem Expriment wurde mit den wichtigsten Diensten des Internets (e-mail, Newsgroup, WWW-Page und Online-Chat) das naheliegende Thema Musik im Internet behandelt. Die fast 50 deutschsprachigen Teilnehmer kamen aus allen Teilen der Bundesrepublik, wenn auch der größte Teil aus Osnabrück war, sowie aus England, Österreich und Spanien. Sämtliche Referate wurden in der Newsgroup diskutiert und auf der Homepage des Seminars (http://bird.musik.uni-osnabrueck.de/seminar/virt_sem.htm) veröffentlicht. Sie setzten sich mit der Internet-Präsenz verschiedener Musikformen und -institutionen sowie der Wissensrepräsentation für netzbasierte Ausbildungszwecke kritisch auseinander. Da alle Texte, auch halbfertige Beiträge sowie die Online-Diskussionen, abgespeichert und sofort per Internet zugänglich gemacht wurden, konnte der Hergang des Seminars jederzeit, auch nachträglich, nachvollzogen werden. Gleichzeitig entstand auf diese Weise ganz nebenbei eine Dokumentation des Seminarverlaufs. Auf der technischen Ebene gab es im Prinzip wenige Probleme, auch wenn es noch an öffentlichen Terminals mangelte und für einen privaten Internetzugang in Deutschland nach wie vor zu hohe Telefongebühren erhoben werden. Bei einigen Teilnehmern war eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem ungewohnten Medium spürbar, dies äußerte sich in verhaltenen Diskussionen und einer relativen Unverbindlichkeit, die vermutlich in der Anonymität des Mediums zu suchen ist: so kam bei den Osnabrücker Teilnehmern der Wunsch nach lokalen Sitzungen auf, der Mangel des persönlichen Kontaktes wurde als spürbarer Nachteil empfunden. Hingegen verlangt das virtuelle Arbeiten ein ausreichendes Maß an Motivation und ein weitgehend selbständiges, recht diszipliniertes Vorgehen, um sich im letztlich selbstbestimmten Studium mit der Organisation des Lernens, der Lernziele und der Stoffmenge auseinanderzusetzen. Vor allem die rein textbasierten Online-Sitzungen wurden mit großer Spannung erwartet, vielleicht weil sie in gewisser Weise als Ersatz für die physische Präsenz der Teilnehmer in einem normalen Seminar diente. Diese Feststellungen decken sich mit den Erfahrungen, die der Autor dieser Zeilen selbst mit seiner Lehrveranstaltung zur Mathematischen Musiktheorie im Wintersemester 97/98 gemacht hat. Zusätzlich zu der lokalen Veranstaltung in Osnabrück waren Dozenten und Studenten der Universitäten Hamburg, Berlin und Zürich online und offline angebunden. In dieser potentiellen weltweiten Öffnung von Lehrveranstaltungen für Studenten anderer Universitäten liegt denn auch eine der ganz großen Chancen des Internets als wissenschaftlichem Kommunikationsmittel. Diese Lehrangebote bilden, zusammen mit den inzwischen schon enzyklopädisch vernetzten geisteswissenschaftlichen Informationsquellen und Präsentationen aktueller Forschungsergebnisse, die vielfach (leider) nur in englischer Sprache vorliegen, ein riesiges Potential an Wissensstoff. Sie können ein traditionelles Studium erweitern und ein virtuelles Aufbaustudium ermöglichen. Da Universitäten möglicherweise in Zukunft nach ihrem globalen Lehrangebot ausgesucht werden, müßten sie sich nicht nur einer landes-, sondern einer weltweiten Konkurrenz stellen, eine Steigerung der Lehrqualität und des Forschungsprofils könnte eine positive Folge sein. Das Erproben von Methoden, das Hinterfragen der kommunikationspsychologischen, pädagogischen und anthropologischen Voraussetzungen (Enders) und das Kennenlernen der Vor- und Nachteile der neuen Technologien ist nur durch tätigen Umgang möglich. Gerade weil die Musikwissenschaft und Musikausbildung derzeit weitgehend dieses Potential eines weltumspannenden Forums, eines entprivatisierten universalen Wissens ignoriert, ist hier auf gesamter geisteswissenschaftlicher Ebene eine aktive Mitgestaltung gefordert. In diesem Sinne erfreute sich das Experiment Virtuelles Musikseminar nicht nur einer regen Medienresonanz, sondern bildete auch zumindest in Osnabrück den Beginn einer neuen Ära von Lehr- und Lernsituationen; das Internet als wissenschaftliches Kommunikationsmittel entwickelt sich zum selbstverständlichen Hilfsmittel von Studierenden und Lehrenden, einer scientific community des Informationszeitalters. Joachim Stange-Elbe |
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