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1998
47. Jahrgang
Ausgabe 9
September (Inhalt)

© nmz und
autoren 1998

  nmz - neue musikzeitung

Feature

Seite 3

Autor:
Thilo Medek

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Von der Faszination des Unveränderlichen

Aus dem Briefwechsel zwischen Alfred Schnittke und Tilo Medek

 

Alfred Schnittke mit Sohn Andrej. Foto: Charlotte OswaldAm 3. August starb im Alter von 63 Jahren der russisch-deutsche Komponist Alfred Schnittke in einer Hamburger Klinik an den Folgen mehrerer Schlaganfälle, die er im vergangenen Jahrzehnt erlitten hat. Mit dem Jenaer Komponisten Tilo Medek verband ihn seit drei Jahrzehnten eine Freundschaft, die sich auch in einem regen Briefwechsel äußerte. Für die neue musikzeitung wertete Medek sein Briefmaterial erstmals aus.

Am Tag nach Alfred Schnittkes Todeserlösung (hier trifft wohl das Wort zu) rief mich die 89jährige Brunhilde Hebel, Mutter einer einstigen Freundin aus Berlin an, um sich an Alfred Schnittke 1936 in Engels zu erinnern: Der Vater Harry schob stets stolz den Kinderwagen mit dem gerade zweijährigen Alf. Seltsamerweise habe sie Alfreds Mutter nie zu Gesicht bekommen, auch abends nicht, wenn sie im immer gleichen Restaurant zusammensaßen und dem Musiker David lauschten, der bald darauf erschossen wurde! Die Berlinerin war ihrem kranken Mann (er war der jüngste kommunistische Reichstagsabgeordnete gewesen) in die Sowjetunion nachgereist, nicht ahnend, was sie dort erwarten würde. In Engels saßen sie und ihr Mann im Gefängnis. Durch eine Schwangerschaft kam sie frei und in der Redaktion der deutschsprachigen Zeitung „Die Nachrichten“ (später „Neues Leben“) unter. Harry Schnittke war dort leitender Redakteur und hielt engen Kontakt mit den beargwöhnten Kommunisten aus Deutschland, die fälschlicherweise geglaubt hatten, vor Hitler sicher zu sein. 1972 traf sich die Mutter meiner Freundin mit Alfred Schnittke in Moskau, wollte aber dem Vater nicht begegnen. Dadurch angeregt, reiste Max Dünow aus der DDR nach Moskau, klingelte an der Wohnungstüre von Schnittkes Vater und wurde abgewiesen – dieser lehnte es ab, ihn je gekannt zu haben (dabei war es der engste Arbeitskollege in der Redaktion gewesen – Dünow war zuvor drei Jahre in Engels im Gefängnis!).

Dieser Zufallsbericht von Zeitgenossen läßt erahnen, unter welch schweren Verstrickungen Schnittkes Vater in Engels (Hauptstadt der wolgadeutschen Sowjetrepublik) lebte und 1941 auch bleiben konnte, als nahezu alle übrigen – auch die Schnittke-Verwandtschaft – nach Sibirien und Mittelasien vertrieben wurde. 1946 ging es dann mit der sowjetischen Besatzungsmacht nach Wien, wo Alfred seinen ersten Klavier- und Akkordeonunterricht erhielt, aber auch (wie er gern erzählte) in alle Kinos gehen konnte, weil man russischen Besatzungskindern den Zutritt nicht verwehrte.

Am 24. Mai 1981 schrieb mir Alfred aus Moskau:

„Einen Monat (16. November – 16. Dezember 1980) war ich in Wien (um Vorlesungen über Sowjetische Musik bei der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst zu halten), wohnte fast unmittelbar neben dem Haus in der Singerstraße, wo ich zwei Jahre (1946 – 48) als Kind lebte. Es hat sich nichts geändert in diesen 33 Jahren, außer den Autos und den Auslagen!! Es gibt keine Zeit!“ Das Unveränderliche war seine Lebensfaszination, so schrieb er beim letzten Besuch am 5. Juni 1989 mit von Lähmung gezeichneter Hand ins Gästebuch: „Tilo, bei allen Veränderungen ändert sich nichts, alles bleibt beim alten, auch unsere Freundschaft.“

Als Alfred Schnittke im Herbst 1967 die DDR erstmals bereisen durfte, wurde er in der Sowjetischen Botschaft am Ende seines Aufenthaltes gefragt, welches der DDR-Werke, die anläßlich des 50jährigen Revolutionsjubiläums entstanden sind, er für das Beste halte. Er sagte: Tilo Müller-Medeks „Dekret über den Frieden“. Das Stück war in den Nachtkonzerten der Komischen Oper auftragslos uraufgeführt worden und durfte in der DDR nicht wieder gespielt werden (man brachte es mit den Ideen des „Prager Frühlings“ in Zusammenhang).

Es war die Geburtsstunde unserer Freundschaft. Ich schlug ihm am 18. August 1968 vor, eine Gemeinschaftskomposition zu starten. Sie kam am 16. November 1968 in Form eines großen Briefes und einer vokal-instrumentalen Umsetzung desselben Briefs in Partitur. Das entsprach nicht meiner Vorstellung, so daß unser Plan mit seiner (bislang noch nicht gespielten und nicht veröffentlichten) Einzelleistung als schöne Utopie steckenblieb. Im gleichen Brief ist bereits das Schnittke-Assoziationswort von der Polystilistik bei der „Quasi una Sonata“ zu lesen: „...ein polystilistischer Versuch mit Quasi-Zitaten aus Bach, Beethoven, Brahms, Chatschaturjan, Penderecki, Schostakowitsch, Ligeti, Jazz et cetera und mit ‚ausdrucksvollen‘ – wie die Löcher im Käse – Pausen.“

Nach Schnittkes erstem Schlaganfall plante ich ein Stück für ihn – es wurde das „Konzert für Pauken und Orchester“, in dessen erstem Satz „Der eiserne Wille“(Leskow) das Monogramm Schnittkes und zweimal die Note f (für Freundschaft) im Oktavabstand den Themengrund der sechs Pauken abgeben (durch das gemeinsame Sch ist das Monogramm mit dem viel und auch von Schnittke benutzten Schostakowitsch-Klangsymbol verwandt).

Schon 1968 schrieb Schnittke über das bekannte polnische Musikfest:

„Ich war beim ‚Warschauer Herbst‘ und kam enttäuscht zurück: Betrübend war nicht der Mangel an guter Musik (...), sondern das äußerst niedrige Niveau der mittelmäßigen. Ich kam zurück mit dem deutlichen Bewußtsein, daß alles schon zum Klischee niedergetreten wurde: Serialität, Pointilismus, Aleatorik, Instrumentales Theater, Elektronik, Statistische Techniken, Sonoristik etc. etc. etc. Jetzt weiß ich genau, was schon unmöglich ist. Aber was ist noch möglich?“

Mehrfach konnte ich Schnittke in Moskau besuchen, seine Hilfsbereitschaft war auffallend. Beargwöhnt wurde aber mein gleichzeitiges Besuchen von Edisson Denissow, denn das war eine andauernde Konkurrenzbeziehung. Da Denissow keinerlei Deutsch sprach, war die Verständigung begrenzt. Wie leicht hätte Schnittke dolmetschen können, aber das kam für ihn nicht in Frage. Am 5. Mai 1969 heißt es:

„Mit Denissow habe ich keinerlei Kontakt mehr – weder menschlich noch musikalisch. Er macht bis jetzt noch den Gästen dicke Freundschaft vor, aber ich spiele nicht mehr mit – soll er sich ein anderes ‚und‘ anlegen.“ Das „und“ meinte die lastende gleichzeitige Nennung von Denissow und Schnittke. Und weiter:“...auch die vielen Festivals Neuer Musik begrenzen sich jetzt meistens mit Denissow, der, wie Klein Zaches, jetzt als einzige Triebkraft der gesamten Entwicklung unserer Musik gefeiert wird. Darum, lieber Tilo, habe ich die Gelegenheit nicht gehabt, Deinen Brief an ihn für ihn zu übersetzen – verzeihe mir das.“

In den zeitgleichen Briefen Denissows an mich vernimmt man nicht die geringste Antipathie zu Schnittke:

„Gestern war das Konzert im Haus der Komponisten, in dem zwei Deiner Werke gespielt wurden ...Ich denke, daß Alfred Schnittke Dir dazu Genaueres schreibt“ (Moskau, 3. Juni 1969, ins Deutsche übertragen). Am 9.06.1969 schickte Alfred seinen Konzertbericht: „Denissow hat Dir ja schon geschrieben davon, wie er mir sagte. Nun habe ich meine Beziehungen zu ihm geklärt und ihm alles ins Gesicht gesagt.“

Leider vereinte später die Komponisten ein gleicher Schicksalstag: Denissows schwerer Autounfall am 5. Juli 1994 bei Moskau, von dessen Folgen er sich nie mehr erholte und taggleich Schnittkes dritter Schlaganfall, dessen schwere Folgen ihn dann anderthalb Jahre länger in jeder Hinsicht fesselten, ohne daß bei beiden die Produktivität versiegte. Man wird sie beide weiter in einem Atemzug nennen – und das zu Recht!

Man mag nur an einer Bemerkung erkennen, unter welchen Schwierigkeiten Kommunikation in „unseren östlichen Bruderländern“ ablief; Anfang 1971 schrieb Alfred:

„Meine Reise in die DDR ist noch nicht bestimmt! Aber wenn Du im Februar (oder März) kommst, so kannst Du mir schon telefonieren – seit zwei Tagen habe ich endlich eine Nummer: 147 44 74.“

Mit 37 Jahren erstmals ein Telefon! Mit 38 Jahren erstmals eine so große Wohnung, daß er jemanden aus einem „befreundeten“ Land bei sich wohnen lassen durfte (nach der Größe des Wohnraumes richtete sich die Aufenthaltsgenehmigung). Von nun an wohnten wir, wenn es ging, beieinander. Noch mitten in meiner Ausbürgerungs-phase 1977 lebte das Ehepaar Schnittke in meiner „Junggesellenwohnung“, wurde in die Sowjetische Botschaft bestellt und mußte sofort die „Hauptstadt der DDR“ in Richtung Moskau verlassen. Am 2. Juli notierte er:

„Als ich herkam, konnte ich nicht vermuten, daß wir uns möglich das letzte Mal sehen – ...“ – „Doch mit Hoffnung!“, fügte Irina auf Russisch hinzu.

Schon im November 1977 erwirkte Gidon Kremer (er war auch privat mit in Ostberlin dabeigewesen), daß Alfred als Cembalist in die Bundesrepublik mitreisen durfte: „Ich hätte nie glauben können, daß ich auch in das andere Deutschland komme und auch Dich, Tilo, sehen werde!“

Wie schnell kam dann der Ruhm, der vor allem durch Kremer ausgelöst wurde – Dank an diesen originellen Virtuosen! Wirkt es da nicht komisch, wenn Alfred am 27. Juni 1974 noch aus Moskau schreiben mußte:

„Gidon Kremer möchte Haydns ‚Sieben Worte‘-Quartett spielen und bittet, ihm die Stimmen zu besorgen.“ Die erste Sinfonie, in Gorki (Nishni Nowgorod) am 9. Februar 1974 uraufgeführt, war die Geburtsstunde von Schnittkes Personalstil, der entsprechende Aufmerksamkeit auslöste. So schrieb er am 12. Juli 1974: „Ich habe wenig Neues, besser gesagt – nichts. Seit Januar habe ich fast nichts geschrieben, weder für den Film, noch für die Musik. Ich bin irgendwie aus der Fassung geraten nach der Uraufführung der Sinfonie und deren Folgen. Nachdem sie (die Sinfonie) mich vier Jahre kostete, frißt sie auch jetzt noch meine Zeit.“

Das „Zeitfressen“ wurzelte im häuslichen Abspielen des Mitschnittes, wenn er am 2. März 1974 „klagte“: „Ob es zu einer Aufführung in Moskau kommt, ist noch unbestimmt, aber es hat sich schon herumgesprochen und zur Zeit habe ich die Sorge, die unendliche Zahl der Bekannten abzuschütteln, die die Aufnahme hören wollen – ich kann doch meine Wohnung nicht zu einem Ohnepausekino machen.“ Brecht umschrieb diesen Zustand einmal als „Abstieg in den Ruhm“...

Immer wieder wurde die kompositorische Arbeit durch Gebrauchsmusikarbeit unterbrochen, vor allem häuften sich die Filmmusiken. Aber gerade darin wurzelte die Fähigkeit, Polystilistik überhaupt angehen zu können. Daß es dabei gelegentlich zu Extremfällen kam, lag in der Natur einer solchen Ästhetik, die Schnittke bereits 1968 im zitierten Brief als „willkürliche Romantik“ voraussah. Ohne das Handwerk angewandter Musik keine „polystilistisch-pluralistische Postmoderne!“

Doch bevor dieser Durchbruch kam, litt Schnittke in Moskau an der typisch „russischen Angst“, mit einer Idee nicht schnell genug in der Welt anzukommen. Ich sehe uns noch Anfang der siebziger Jahre auf dem Kalininprospekt schreiten, als er sagte, jede Idee werde gleichzeitig mehrfach auf der Welt geboren. So könne man noch so „modern“ sein, ein westlicher Komponist sei – wie beim „Hase und Igel-Wettlauf“ – immer bereits „schon da“! Umgekehrt war es so, daß wir alle „hinter dem Eisernen Vorhang“ neugierig auf den Westen schauten, uns listenreich informierten, umgekehrt aber nur Arroganz und Desinteresse am östlichen Schaffen waltete.

Alfred Schnittkes kompositorisches Werk begann in sozialistischer Ergebenheit, die er schon bald überwand und deren frühe Produkte er wohl auch tilgte. Er verzeihe sich nicht, sagte er mir einmal, Stalingedichte vertont zu haben. Die Wut über den Kinderglauben, durch den stalintreuen Vater vermittelt, ließ ihn Trost und Heimat in Religion finden, zuletzt in der katholischen, was er durch eine Taufe bei Kremers Lockenhaus-Pfarrer besiegeln ließ – ein Dissidenten-Phänomen. Sich intensiv mit westlichen Stilrichtungen auseinandersetzend, fand er den Weg zu seinem verzweigten Selbst.

Dicht hinter Schostakowitsch eroberte er die Konzertsäle der Welt, befriedigte zum einen religiöse Gefühle, zum anderen eine vergessene Schauerromantik (in herbstlichem Tango- und Walzerduktus) und traf im Zentrum den klanggewordenen „Zeit- und Erlebnisgeist“ der siebziger und achtziger Jahre, so daß er zu einem musikalischen Dokumentaristen dieser vorkommenden, um nicht zu sagen: „verkommenen“ Welt wurde.

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