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1999
48. Jahrgang
Ausgabe 04
April (Inhalt)

© nmz und
autoren 1999

  nmz - neue musikzeitung

Tagebuch

Seite 8

Autor:
Claus-Henning
Bachmann

 

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Tagebuch

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„Referenzstatus“

Alle sind anwesend, alle sind ergriffen und begeistert. Nuria Schoenberg Nono, die Tochter des Komponisten, erläutert die „multimediale und interaktive“ Arnold-Schönberg-Ausstellung, die schon in zwanzig Städten gezeigt wurde und Leben und Werk des großen konservativen Modernen, dieser Jahrhundertfigur, in zwölf „Teatrini“ darstellt. Das ist eine Wortschöpfung Claudio Abbados, der viermal in der Berliner Philharmonie Schönbergs Symphonische Dichtung „Pelleas und Melisande“ op. 5 mit dem Berliner Philharmonischen Orchester aufführt, ein Anlaß, der Rudolf Stephan, Leiter der Schönberg-Gesamtausgabe, Gelegenheit bietet, ihm als 50. Band dieser historisch-kritischen Ausgabe die Neuedition von „Pelleas und Melisande“ zu überreichen. Damit trete das Forschungs- und Editionsprojekt zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Es ist alles sehr feierlich.

In der ersten der vier Aufführungen sitzt Shirley MacLaine im Block A, „der Star von nebenan“, wie das Kennwort für die ihr gewidmete Hommage lautet, ein Leuchtfeuer von den gleichzeitigen 49. Internationalen Filmfestspielen. Schönbergs vom Umfang her größtes Orchesterwerk sei zwar „schwerverdaulich“, befindet anderentags eine Berliner Zeitung, aber die Aufführung „hatte Referenzstatus“ und könne dem Stück zu dem ihm angemessenen „Repertoirerang“ verhelfen. Abbado hatte die Orchesteraufstellung seines konzertanten „Tristan“ gewählt – Bratschen an der Stelle der ersten Violinen, zur Mitte hin die Celli, halb seitlich dann die ersten Violinen (deren Unterbelichtung wird in Kauf genommen) und ihnen folgend die zweiten, vis-à-vis den Bratschen. Das macht natürlich Sinn, denn es gibt in „Pelleas“ einen strukturell verfolgbaren „Tristan“-Nachklang, progressiver als in der vorangegangenen „Verklärten Nacht“. Es gibt, zumindest in dieser Aufführung, auch eine „Mahler-Nähe“, obgleich Schönberg (seinem Biographen Stuckenschmidt zufolge) sich erst zwei Jahre nach dem Schlußdatum seiner „Pelleas“-Partitur – 28. Februar 1903 – intensiver mit Mahler beschäftigt hat. Habe ich einem Jahrhundert-Ereignis beigewohnt? Die Daten sprechen dafür, aber auch orchestrale Klangpracht und Ausdrucks-Beredtheit. Klang, in Schönbergs filigraner Textur, treibt ein strukturierendes Moment aus sich heraus, dem nachzuspüren sich der mit der Musik von Schönbergs Schwiegersohn Luigi Nono vertraute Abbado schon von seiner Werkkenntnis her gedrängt fühlt. Gleichwohl bindet eine luxurierende Großflächigkeit dieser Interpretation das Werk eher ans vergangene denn über das gegenwärtige hinaus ans zukünftige Jahrhundert. Diese Gerichtetheit ins Offene auf dem klanglichen Hintergrund des „vertrauten“ d-Moll markiert indes seine nicht leicht „verdauliche“ Ausgesetztheit. Ihr werden Ereignisse, die Größe zu prästabilieren scheinen, nur selten gerecht.

 

Blähungen

Die Klassengesellschaft ist dadurch definiert, daß sich die ihr zugehörigen Gruppen untereinander durch ihre jeweils „eigenen besonderen Interessen, durch Ideologie und Lebensgefühl“ unterscheiden (Lexikon–Eintrag). In den modernen Klassengesellschaften verlor die soziale Herkunft an Bedeutung, „und der Besitz, das Geld, trat in den Vordergrund“ (ebenso). Die sozialistische Utopie zielte auf die klassenlose Gesellschaft. Sie gilt als geschichtlich überholt, aber die unterschiedlichen Besitzstände sind geblieben, ja sie haben sich offensichtlich verfestigt. Es gibt die Begüterten und die weniger Begüterten und die Armen, wobei die Schwelle der Armut je nach Lebensgefühl unterschiedlich angesetzt wird. Mit Glück und Geschick gelingt einigen der Übergang zu einer höheren Stufe im Gefüge der sozialen Schichtung. All das ist in der Anschauung und Ausübung musikalischer Kultur keineswegs aufgehoben, obwohl das zu hoffen gewesen wäre angesichts der von Heiner Müller und anderen nach dem Ende der Utopien in die Kunst gesetzten Erwartungen. Daß sie nämlich, Müller zufolge, das zusammenführen könne, was die Aufklärung sorgsam getrennt habe; daß sie gleichsam Wirklichkeit authentisch benennen könne, während die vorgegebene, die vermeintlich wirkliche Wirklichkeit aus bloßen „Übergängen von Schein und Realität oder Fiktion und Konstruktion besteht“ (Wolfgang Welsch). Angesichts dieser Sachlage sei nur ästhetisches Denken noch „navigationsfähig“, meinte Welsch 1990.

Die Wirklichkeit als ästhetisches Konstrukt? Dagegen traten nicht nur die Verlierer des dialektischen Materialismus auf: „Ein so aufgeblähter Begriff des Ästhetischen taugt letzten Endes zu gar nichts mehr.“ (Günter Mayer, 1994) Dies um so weniger, als die Wirklichkeit der Kapital-Verhältnisse, die Kunst in der Öffentlichkeit auszuüben erst ermöglicht, ästhetisches Verhalten erfolgreicher auf Kurs hält („navigiert“) als umgekehrt. Ob wohlhabende Bürger sich ein Opernhaus leisten wie in New York und Zürich oder ein Konzern avantgardistisch Sperriges in „Musikalischen Salons“ versammelt: Die derart Beglückten geben Zeugnis von dem, was ist, und lassen vergessen, was ästhetisch denkbar ist.

 

Disharmonisches C-Dur

„Neue Musik im geteilten Deutschland“: Der Buchtitel dieses vierbändigen, jetzt abgeschlossenen Unternehmens und damit das ganze in Verbindung mit der Musik-Biennale Berlin 1993 begonnene Projekt wird künftigen Generationen vermutlich „exotisch“ oder historisch unendlich ferngerückt erscheinen.

Kann man von unterschiedlichen Kulturen überhaupt sprechen, die, anfänglich separiert, in den achtziger Jahren mit dem Versickern der Theorie-Diskussionen über Musik in beiden deutschen Staaten mehr oder minder „zusammengewachsen“ sind, also ihre wechselseitigen Bindungen erlebt haben? Die Dokumente aus den achtziger Jahren, mehr noch die Kommentare der beiden Herausgeber Ulrich Dibelius und Frank Schneider werfen Licht auf eine je nach Standort farblos graustichige oder erfrischend buntscheckige Befindlichkeit. Sie geben Anlaß zu einigen übergreifenden Notaten.

Erstens: Wir nehmen uns vielleicht zu wichtig in Europa. Man muß nicht die Ethnokulturen bemühen, um zu dieser Einschätzung zu kommen – man muß nur auf Entwicklungen in den vor hundert Jahren kulturell von europäischen Einwanderern bestimmten USA blicken, bevor dort (um bei der Musik zu bleiben) Gershwin und Cage kamen, und wo seit einigen Jahren die Identitätssuche mit Hilfe des angestaubten Genres Oper im Gange ist.

Zweitens: Ästhetik und Moral haben nichts miteinander zu tun. Dibelius spricht mit Bezug auf die „Zitateinschlüsse“ Bernd Alois Zimmermanns in den sechziger Jahren von dem Durchbrechen „ästhetischer Moralregeln“ im Westen und vergleicht sie mit den politischen Moralregeln in der DDR. Dieses Konstrukt, so einleuchtend es ist, erklärt nichts. Der Komponist und Dirigent Johannes Kalitzke sucht „Legitimation der Form in einem Verfahren,... bei dem sich bestimmte Zustände von Disharmonie und Harmonie wieder herstellen lassen“ und fragt sich zugleich: „Was ist heute konsonant? C-Dur, das kann’s nicht sein.“ Der rigorose Nachkriegsaufbruch ist längst zurückgenommen. Einige, darunter B.A. Zimmermann, haben das vorausgesehen. Den daraus entstehenden inneren Konflikt hat er nicht bewältigt. Die Spannungen zehrten ihn auf.

Drittens: Wir haben nichts gelernt. Zwar mag in der Tat die in der DDR intendierte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ nicht finanzierbar gewesen sein, aber heute ist sie die einzige Option auf ein Weiterbestehen unserer Welt, auf Erhalt ihrer Ressourcen, wenn hinzugefügt würde: „und Bildungspolitik“. Sonst gibt es einen sozialen Riß, der dauerhaft wäre.

Claus-Henning Bachmann

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