Der Drei-Flüsse-Ort Passau in Niederbayern beheimatet das
Festival Europäische Wochen
Die Kelten und die Römer waren schon da, die drei Flüsse
Donau, Inn und Ilz sind immer noch da sowie eine überwiegend
intakte barocke Altstadt mit gewichtigen Baudenkmälern der
italienischen Renaissance. Mitten drin, auf einem sanften Hügel,
steht die alles beherrschende Dom-Kathedrale St. Stephan, in der
die größte Kirchenorgel der Welt residiert. Das fünfmanualige
(räumlich geteilte) Instrument aus der Passauer Orgelbau-Firma
Eisenbarth verfügt über mehr als 17.000 Pfeifen und 233
klingende Register. Zwischen Frühjahr und Herbst erklingt es
täglich zur Mittagsstunde für aberhunderte von Touristen,
die buchstäblich zu ihm pilgern. Wer kann jetzt noch daran
zweifeln? Es geht um Passau, das bayerische Venedig, Zentrum eines
ehemaligen Fürstbistums, dessen geistliche Oberhoheit bis in
die ungarische Puszta reichte.
Weitreichend ist die Bedeutung der Geistlichkeit auch in der gewichtigen
Musikgeschichte dieser Stadt, denn jene wurzelt buchstäblich
in der Domkirche, von der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu
alle Impulse ausgingen, die mit der holden Tonkunst in Verbindung
gebracht werden können (siehe Passauer Musik-Geschichte
von Heinz-Walter Schmitz, Verlag Karl Stutz, Passau 1999). Neben
der großen Orgel, die abgesehen von ihrer durchgehend
liturgischen Funktion auch im Mittelpunkt einer ganzjährigen
Konzertreihe mit internationalen Organisten steht, haben ein ausgezeichneter
Chor sowie das exzellente Domorchester eine gewichtige Stimme im
Konzert der Passauer Musikentfaltung. In der Reihe Geistliche
Konzerte, die über das Jahr neben dem sonntäglichen
Dienst erweitert die einschlägige Mess- und Oratorien-Literatur
bedienen, sitzen jeweils um die 1.000 andächtige Zuhörer.
Geistlichkeit von Bedeutung
Säkularisiert wurde das Musikleben an den drei Flüssen
erst vor gut 150 Jahren mit dem gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs
eines saturierten Bürgertums. Und das hat durchaus anhaltend
positiv ausgestrahlt: Zum Beispiel in die 1842 gegründete Liedertafel,
seit Anfang der 50er Gesellschaft der Musikfreunde,
die, abgesehen von der Nazizeit, dem kulturellen Herzschlag der
Stadt ununterbrochen Impulse gegeben hat. Mit grossen Werken von
Bach bis Orff. Seit über 150 Jahren trägt sie einen beständig
aufgefrischten Chor von beachtlicher Qualität und 20 Jahre
den Passauer Konzertwinter, der in der kulturellen
Eiszeit auf seinem Gebiet mit Kammermusik und herausragenden
Künstlern wie außerordentlich interessanten Programmen
kulturelle Wärme spendet. Mit den Konzertreihen des Vereins
verbinden sich etwa so bedeutende Namen wie Friedrich Gulda, Stefan
Askenase, Andor Foldes, Elisabeth Leonskaja, Rudolf Buchbinder und
andere Pianisten. Eine ganze Reihe namhafter Kammermusikensembles
bestimmt bis heute die Programme, bei denen es sich längst
eingebürgert hat, wann irgend möglich, ein Werk des 20.
Jahrhunderts zu berücksichtigen. Das hat in Passau sehr viel
Schwellenangst vor der Moderne abgebaut. Das Publikum
ist jetzt viel aufgeschlossener als noch vor 20 Jahren. Die zyklische
Aufführung aller 32 Klaviersonaten Beethovens mit der Wiener
Pianistin Felicitas Keil zählt in der Geschichte der Musikfreunde
bislang zu den Meilensteinen unter den außerchorischen Initiativen
des Vereins.
Der gleichermaßen altehrwürdige Passauer Konzertverein
bietet fähigen Instrumental-Dilettanten wie professionellen
Musikern ein Spielfeld, auf dem das Dabeisein wichtiger ist als
der Triumph über jede Note. Freilich gibt es immer wieder auch
ehrgeizige Projekte wie Beethoven- oder Schubert-Symphonien, anspruchsvolle
Instrumentalkonzerte mit namhaften Solisten. Es ist ein sympathischer
Verein, der in erster Linie das aktive Musizieren um seiner selbst
Willen pflegt. Einen Anspruch, der in einer Zeit vorwiegenden Kulturkonsums
in seiner gesellschaftlichen Bedeutung kaum überschätzt
werden kann.
Der Passauer Singkreis, einst gegründet vom dem in der Dreiflüssestadt
geborenen und aufgewachsenen Dramatiker, Autor und Musiker Reinhard
Raffalt (19231976), vertrat über Jahrzehnte nahezu allein
und kompetent wie in erstaunlicher Repertoire-Vielfalt das Element
des anspruchsvollen A-cappella-Gesangs. Studentische Aktivitäten
an der Universität und der vor einigen Jahren gegründete
Heinrich-Schütz-Chor Vornbach haben mittlerweile das Spektrum
auf diesem Gebiet erweitert, aber auch bezüglich der Chor-Orchester-Literatur
zu einer Bereicherung geführt. Innerhalb der 1978 gegründeten
Alma Mater haben sich neben etlichen Gesangsformationen auch ein
respektables Studentenorchester und ein fabelhaftes Akademisches
Orchester etabliert, die bei wenigstens einem Auftritt pro
Jahr mit ambitionierten Projekten, aber auch auf beachtlichem spielerischen
Niveau an die Öffentlichkeit treten. Als Publikum im allgemeinen
Kulturbetrieb spielen die rund 10.000 Passauer Studenten hinsichtlich
der Präsenz aber bis heute noch nicht die einst erwartete Rolle,
was viele Veranstalter selbstverständlich nachdrücklich
bedauern.
Tragende Säule des
Passauer Kulturbetriebes: Das Ehemals Fürstbischöfliche
Opernhaus
Zu den tragenden Säulen des Passauer Kulturbetriebs gehört
unabdingbar auch das Ehemals Fürstbischöfliche Opernhaus.
Viele Besucher können es oft nicht glauben, dass die rund 53.000
Einwohner zählende Stadt über eine Oper mit eigenem Orchester
und Ensemble verfügt. Das blieb allerdings nur in Solidarität
mit anderen kulturwilligen Kommunen möglich. In diesem Fall
verbündeten sich Landshut (Schauspiel) und Straubing mit Passau
im Südostbayerischen Städtetheater zu einer
Institution, die seit über 30 Jahren neben dem exzellenten
Schauspiel auch das selbstgemachte Musiktheater im gesamten
ostbayerischen Raum lebendig hält. Die Passauer Bühne
ist ein kleines bezauberndes Haus im klassizistischen Stil, das
einst der regierende Fürstbischof direkt von seiner Residenz
aus betreten konnte. Heute dient es den Bürgern, die sich auch
bei noch so umstrittenen Inszenierungen von Oper, Operette und Musical
nicht abhalten lassen. Das fragile Haus trägt durchaus so Schwergewichtiges
wie Verdis Otello oder jüngst gar Wagners Tannhäuser.
Da werden neben wiederholten Mozartzyklen auch immer wieder Grenzbereiche
ausgeschritten. Und das Publikum steht auch zu seinem
Theater am Inn, das sich auf eine traumhafte Auslastung berufen
kann. Darum wohl fiel es der Stadt Anfang der 90er-Jahre wohl nicht
allzu schwer, sich auf eine fast 30 Millionen Mark schwere Gesamtsanierung
des historischen Musentempels einzulassen, der dadurch freilich
(außer modernster Technik) nicht den geringsten Zuwachs an
Spielraum gewann.
Sollte in etwa das beabsichtigte chronologische System eingehalten
werden, müssen nun die Festspiele Europäische Wochen Passau
(EW) folgen, die 1952 auf nachdrückliche Initiative der US-Besatzer
buchstäblich aus dem Boden gestampft wurden. Als hätten
sie es geahnt, dass Passau noch in diesem Jahrhundert wieder zum
geografischen Mittelpunkt eines Europas ohne Eisernen Vorhang
würde, haben die Stadt und später ein Verein (ab 1959)
den Gedanken eines zumindest kulturell immerwährend einigen
Europas weitergetragen. Diese Vision wurde unbeirrbar am Rande der
menschlich undurchlässigen ideologischen Grenzen mit unglaublicher
Beharrlichkeit verfolgt und mit dem Zusammentreffen renommierter
Künstler und Ensembles aus Ost (vorwiegend) und West kulturell
institutionalisiert. Hier hatte der Eiserne Vorhang
sodann immer ein Loch. Am Ende der fast 30-jährigen Intendanz
des Dirigenten Walter Hornsteiner gab es kaum einen weltweit renommierten
Musiker, keine Sängerin und keinen Sänger, kaum ein europäisches
Orchester von Ruf, die nicht in Passau aufgetreten wären.
Europa Musicale
Als 1995 der Münchner Pankraz Freiherr von Freyberg
Initiator und Organisator des Festivals Europa Musicale
Hornsteiners Amt übernahm, trat politisch zeitgemäß
ein Wandel ein. Er bestand in einer konsequenten thematischen Bindung
eines jeweiligen Festspiel-Jahrgangs. Keine leichte Aufgabe, aber
Freyberg stand sie bisher trotz mancher Angriffe vor
allem mit seiner künstlerischen Kompetenz und unversiegbarer
Fantasie durch. Auch er legt Wert auf Stars. Aber eben nicht überwiegend,
und wenn, dann müssen sie schon in seinem Konzert der verzurrten
Ideen mitspielen. Diese neuen Konturen haben dem Passauer Festival
bald die vordem weitgehend verweigerte Reputation internationaler
Medien eingebracht. Griechenlands berühmter Held Mikis Theodorakis
dirigierte 1999 spektakulär die Uraufführung einer neuen
Version seiner Oper Die Metamorphosen des Dionysos,
zwei Jahre davor hatte ihn das Publikum im Dom schon als Dirigenten
seines Griechischen Requiems gefeiert. Der polnische
Komponist Krzysztof Penderecki erregte Aufsehen mit seiner immer
noch explosiv wirkenden Lukaspassion. Er wurde zum Freund
eines Festivals, dem er treu bleibt. In diesem Jahr kommt er mit
seinem Polnischen Requiem zu den Europäischen Wochen,
die unter dem Leitwort Zukunft braucht Erinnerung stehen
werden.
Und um das Niveau dieses im Jahr 2000 genau einen Monat währenden
grossen Kulturereignisses in einer kleinen Stadt noch einmal kurz
anzureißen: Mstislaw Rostropowitsch wird mit dem Symphonieorchester
des Bayerischen Rundfunks sowie dessen Chor Brittens War Requiem
aufführen. Es wird die 3. Symphonie von Henryk Górecki
geben sowie die Uraufführung des Triptichon 2000 für
Orchester von Ruth Zechlin. Ein Auftragswerk, das sich in
den neu formulierten Anspruch fügt, auch hier der Innovation
zu dienen. Höchst bemerkenswert sind unter vielem noch eine
Art Porträt-Konzert mit und um den Münchner Komponisten
Hans-Jürgen von Bose (geb. 1953). Durchschlagender Erfolg ist
beim dritten Mal sicher auch wieder der Orgelnacht im Dom von Sonnenuntergang
bis Sonnenaufgang beschieden. Sechs Meisterorganisten huldigen dabei
an der großen Orgel nur einem: Johann Sebastian Bach, dessen
250. Todestag in diesem Jahr begangen wird.
Die EW sind bewusst ein Mehrsparten-Festival, mittlerweile länderübergreifend
nach Österreich und Tschechien. Sie haben aber ihren traditionell
bei der Musik liegenden Schwerpunkt nicht aufgegeben. Sie bleibt
das Herz dieser Institution, die, je nach dem, in den letzten Jahren
zwischen 12.000 bis 15.000 (zahlende) Besucher angezogen hat. Es
muss noch gesagt werden, dass die EW sehr stark das musikalische
Potenzial der Region einbeziehen und dabei vermehrt dem begabten
Nachwuchs eine Chance geben. Der besondere Charme dieses alljährlichen
Ereignisses in Sachen Kultur (Etat 3,1 Millionen Mark) liegt jedenfalls
jetzt in seiner noch lange nicht ausgetragenen Ambivalenz zwischen
dem vehementen Antrieb zu neuen Ufern und einer aufgezwungenen Beharrlichkeit.
Bei solcher Schubkraft rauchen manchmal die Bremsklötze: In
einer alten, traditionell konservativen Stadt, in der erstaunlich
genug im Klerus einer der zuverlässigsten Faktoren zu
finden ist, wenn es um mutige Entscheidungen bei kulturellen Dingen
geht.
Zwei neue Orchester
wuchsen heran
Die jüngere Zeit hat in Passau auch das Heranwachsen zweier
neuer Orchester erlebt, die sich mit unterschiedlichen Ansprüchen
auf einen schwierigen Weg gebracht haben. Das Sinfonische
Orchester Ostbayern, bestehend aus versierten Laien und erfahrenen
Profis, wollte erst einmal unter anderem Namen eine Symbiose von
Jazz und Klassik, was sich aber nicht als sehr fruchtbar
erwies. Heute kooperiert es sehr eng mit dem Chor der Musikfreunde
bei großen Oratorien. In wirklich außerordentlich bemerkenswerten
Konzerten hat in wenigen Jahren das Euregio Symphonie Orchester
(ESO) einen erstaunlich hohen Standard erreicht. Seine Gründung
basierte auf der Idee, im Dreiländereck junge Musiker aus Ostbayern,
Oberösterreich und Tschechien professionell in einem großen
Klangkörper zu binden, der alljährlich projektbezogen
und nach ausgeklügelter Einstudierung großdimensionierte
Symphonik in allen drei Ländern aufführt. Künstlerisch
hat das bisher in beiden Fällen überwiegend hervorragend
geklappt. Aber es fehlt halt auch da am lieben Geld. Keiner weiß,
wo es plötzlich hingekommen ist. Vor allem, wenn die Kultur
danach fragt. In ähnlicher Weise und aus gleichem Impuls entstand
allsobald der mit dem ESO eng liierte Drei-Länder-Chor. Basis
war und Stütze ist der schon erwähnte und wirklich zu
Höhenflügen fähige Heinrich-Schütz-Chor Vornbach.
Internationale Reputation war in kürzester Zeit aus einer
Initiative der Städtischen Musikschule hervorgegangen: der
Wettbewerb für Blechbläserensemble um den Preis
der Europa-Stadt Passau für Profis und Laien. Wer immer
da vor der Jury besteht, hat in der Branche europaweit sofort einen
Namen. Die Städtische Musikschule überhaupt ist seit Jahrzehnten
eine Talentschmiede mit besonderer Erfolgsquote. Denn sie stellt
alljährlich auffällig viele Schüler, die aus dem
Wettbewerb Jugend musiziert in allen drei Ebenen als
ausgezeichnet hervorgehen. Das bedeutet aber nicht nur,
dass die Schule besonders herausragend ist, sondern dass das musikalische
Nachwuchspotenzial in einem gedeihlichen Musik-Klima aufwächst.
Dafür sorgen trotz aller wachsenden Probleme und Schülerschwund
nachdrücklich auch die vier Gymnasien. Kein Zweifel:
Das Musikpublikum von morgen wächst hier immer noch auf einer
Insel der Seeligen nach.