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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 39
49. Jahrgang | November
Oper
& Konzert
Froschschenkel im Schnürboden
Heiner Goebbels Même soir in München uraufgeführt
Es gibt Terrains, auf die man sich nicht begeben sollte
oder noch nicht, auch wenn dies die Frage impliziert: Wann aber
dann? In Même soir hat sich Heiner Goebbels auf
solch ein Terrain begeben. Und scheiterte.
Goebbels hat in den letzten 15 Jahren spätestens seit
dem Heiner-Müller-Hörstück Verkommenes Ufer
von 1984 immer wieder überzeugt, verblüfft, Werte
umstoßend wachgerüttelt. Er tat es im großen Stil,
in der virtuosen Handhabe von Zitaten und Zitatgeflechten, in semantischen
Überblendungen, in bewusstmachenden Ein-, Auf- und Ausblendungen.
Nachhaltiges entstand, Tiefsitzendes, Eindrücke, die nicht
mehr los lassen. Das aber hatte seine Wurzeln im Vertrauten, im
allzu oft Viel-Vertrauten, das durch Heiner Goebbels Querstände
plötzlich und unmittelbar ins Ungesicherte driftete. Immer
aber war es ein ganz konkretes Sujet, an dem sich der Hörer
verunsichert abrieb.
In
Même soir aber gibt es diese Konkretion kaum.
Zwar ist da ein Text, der hinter allem wohl steht, etwas wie eine
Tagebuchnotiz von nächtlicher Begegnung, angefüllt mit
wehen Empfindungen. Der aber kann in dieser Form nicht konkret werden
(entstammt er doch obendrein einem Buch, das nie geschrieben
wurde) und wird es nicht. Er bleibt unausgesprochen,
wird im Stück nicht formuliert.
Also bleibt die Musik, die Heiner Goebbels mit dem Schlagensemble
Les Percussions de Strasbourgh komponierend/improvisierend
erarbeitete. Es ist eine Musik des ungesicherten Raums, der vom
klackenden Puls pendelartig aufgehängter Kugeln rastriert wird.
Keine neue, aber eine immer wieder schöne Idee: Rhythmen haben
sich einzuklinken in einen Puls, den das Leben oder hier besser
die Physik vorschreibt: So wie das Pendel der Zeit Gesetze vorschreibt,
denen niemand entkommt.
Doch hier an dieser Stelle, die Spannendes hätte versprechen
können, ist Goebbels nicht mehr viel eingefallen. Und wenn
einem nichts einfällt, dann greift man gerne in die Kiste materieller
Selbstläufer. Schlagwerk wird vorgeführt, fast mit akrobatischen
Ausbuchtungen. Trommeln werden auf die Bühne angefahren und
bringen im Gepäck gleich Rituelles mit. Und die klackenden
Kugeln, im Grunde omnipräsent, werden am Schluss wie verzweifelt
zuckende Froschschenkel zum Schnürboden hinan gezogen. Materiale
Techniken dieser Art aber kennen wir triftiger und zugleich gelöster
etwa von Mauricio Kagel. Das Spielerische, der ungut-gute Leerlauf
fehlte bei Goebbels, obwohl die verwendeten Mittel danach drängten.
In Même soir jedenfalls entstand weder Gelöstheit
des Spiels, wohin Goebbels bisher noch nie tendierte, noch die Triftigkeit
des nachdrücklichen Verweises. So mochte man als Ergebnis unbefriedigt
mit nach Hause nehmen: Es ist wirklich erstaunlich, wie oft man
in der öden Mitte bleibt, auch wenn man Ränder sucht.