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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 38
49. Jahrgang | November
Oper
& Konzert
Nachtschicht in den Stunden des Neumondes
Die Turbinenhalle eines Kraftwerkes als künstlerische Wiederverwertungsanlage
Lange vor der Ausfahrt Vockerode schiebt sich das Kraftwerk mit
seinen vier Schornsteinen ins Blickfeld. Vier mal 142 Meter
die sind nur schwer zu übersehen. Ein gigantischer Dampfer
scheint dort den Mischwald rechts der A9 zu zerpflügen, ein
Dampfer, dessen Rumpf eine 300 Meter lange Turbinenhalle ist. Allein:
Das Bild stimmt schon deshalb nicht, weil den Schornsteinen der
Rauch, Symbol industrieller Pros-perität, verloren gegangen
ist. 1937 bis 1940 gebaut, 1953 erweitert und zu DDR-Zeiten Zentrum
der Energie, hatte das Braunkohlekraftwerk Vocke-rode nördlich
von Dessau bald nach der Wende ausgedient und wurde 1994 abgeschaltet.
Über Nacht war eine Industrieruine entstanden, die neben arbeitslosen
Menschen auch die Frage nach dem Danach hinterließ. Die Kunst
kam ins Spiel.
Inzwischen
haben zwei Landesausstellungen 120.000 Menschen nach Vockerode gebracht,
bildende Künstler, Theatergruppen und Musiker die Turbinenhalle
vorübergehend in Besitz genommen. Sogar Teil der sogenannten
EXPO-Korrespondenzregion im sachsen-anhaltinischen Städtedreieck
Wittenberg-Dessau-Bitterfeld ist das Kraftwerk geworden. Trotzdem
ist immer noch unsicher, ob der Koloss nicht doch abgerissen wird,
um wer weiß vielleicht einem weiteren Einkaufszentrum
Platz zu machen. Daran wird wohl auch Eberhard Klokes ehrgeiziges
Expo-Projekt nichts ändern, das Anfang Juli für zwei Abende
Leben in die Ruine brachte.
Kloke, ehemals Generalmusikdirektor in Ulm, Freiburg, Bochum,
Nürnberg und Spezialist für zeitgenössische Musik,
versteht sich mittlerweile als Projektemacher. In dieser
Funktion hat er elf Projektmodelle entwickelt, die zusammen Der
Imaginäre Raum heißen und Musik, Licht und bildende
Kunst in unterschiedlichsten Räumen zum Gesamtkunstwerk verschmelzen
wollen. Die von Kloke geleitete Performance in Vockerode hieß
frei nach der sinfonischen Dichtung von Nicolai Roslawez In
den Stunden des Neumondes, wobei sie praktischer Weise eine
Variante der Show Der Gelbe Raum war, die am 30. September
zu den Weltmusiktagen in Luxemburg aufgeführt wurde.
Nun ist gegen künstlerische Wieder- beziehungsweise Vorverwertung
nicht unbedingt etwas zu sagen. Allerdings war deutlich zu merken,
dass dieses Projekt erst nachträglich auf Vockerode zugeschnitten
wurde und den gigantischen Raum nur teilweise füllen konnte.
Was umso ärgerlicher war, als das Programmheft überquoll
vor Versprechungen, die man alle schon irgendwann gehört hatte
und die ob ihres Anspruchs zwangsläufig nur ungenügend
erfüllt wurden. Vollmundig wurde da ein grenzüberschreitender
inhaltlicher Entwurf für eine konzeptionelle, aufführungspraktische
sowie rezeptionsästhetische Erneuerung der Musik- und Theaterszene
angekündigt, in dem Klaus Merkels riesenhaftes Tafelbild CUT
EXPO EXTRAS gegenüber Musik und Licht ein ebenbürtiges
Input-Medium darstellen sollte. Das klang beinahe so, als
hätten die Veranstalter dem Publikum eine eigene Meinung nicht
zugetraut oder sich vor einer solchen gefürchtet.
Nachdem der erste Abend mit Werken von Webern, Schönberg,
Ives und Schubert, mit der Uraufführung von Moritz Eggerts
Melodram Der Andere und Gerhard Stäblers spatial
ayres eher kammermusikalische Dimensionen hatte, folgte am
zweiten Abend die orchestrale Großvariante mit dem Philharmonischen
Staatsorchester Halle, dem Ensemble United Berlin, den Hallenser
Madrigalisten und drei Solisten, denen das Publikum zu zwei
verschiedenen Spielorten folgte.
Es begann vielversprechend in der unteren Ebene des Kraftwerks,
dessen Aufteilung in Seitenschiff, Mittelschiff, Empore und Lichtgaden
nun Gedanken an den verlassenen Tempel einer Arbeitsreligion beschwor.
Während Alexander Mossolows Maschinenmusik Die Eisengießerei
(1926) in der Ferne im Rhythmus des Fortschritts stampfte und hämmerte,
lieferte Charles Ives Unanswered Question eine
verinnerlichte Kritik zur maschinellen Euphorie: Aus verschiedenen
Ecken tasteten Trompeter mit ihren musikalischen Fragezeichen die
Turbinenhalle ab, deren wahre Größe das Ohr viel eher
als das Auge fassen konnte. Ganz im Vordergrund rief sich ein Flötenquartett
mit bohrenden Kommentaren in Erinnerung, zwei Orchester unterlegten
einen Streicherteppich. Von der Empore schließlich schickten
die Hallenser Madrigalisten den zweiten Satz aus John Taveners Raumkomposition
Ikon of Light (1983) herunter, deren dicht gewebter
atonikaler Satz samt Orgelpunkt von einem unten postierten Streichtrio
erwidert wurde.
reizendes Gezwitscher
Die Enttäuschung begann auf dem Weg in die obere Kraftwerksebene
mit einer Vielzahl von Monitoren, die Klaus Merkel bei der wenig
aufregenden Arbeit an seinem von Farbfeldern bestimmten Gemälde
zeigten. Im Programmheft war von Videoinstallation die
Rede. Zu Ravel/Mussorgskys Bildern einer Ausstellung
passierte dann außer Musik erstmal nichts, nimmt man die Schwalbenfamilie
aus, die das Kraftwerk bewohnt und zur Musik reizendes Gezwitscher
beisteuerte. Immerhin hatte man da noch eine prächtige Sicht
bis zum anderen Ende der Halle. Zu Gerhard Stäblers uraufgeführtem
Orchesterwerk energy light dream wurde
jedoch Merkels Gemälde (Format: 7 mal 13 Meter) auf Schienen
so weit ins Blickfeld geschoben, dass die optische Raumwirkung schließlich
völlig verloren ging.
Stäblers heterogenes Auftragswerk lebte von der Gegensätzlichkeit,
von unterschiedlichsten Ensembleformen und Kompositionsverfahren,
die mit verschiedenen Bandgeräuschen gekoppelt wurden. Reizvolle
Effekte blieben jedoch ohne dauernde Wirkung, weil die eher epische
Dramaturgie kaum Fixpunkte vorsah, die ein strukturiertes Hören
ermöglicht hätten. Der Raum als klangliches Gestaltungsmoment
blieb bis auf einige Fern-Passagen der zu Höchstleistungen
geforderten Solisten (Annette Robbert, Sopran; Kay Stiefermann,
Bariton) ungenutzt ganz zu schweigen von den Lichteffekten,
die nicht nur sparsam, sondern hinter Merkels Tafelbild auch nur
zu erahnen waren.
Kurioserweise schwieg sich das Programmheft zu dieser Uraufführung
ebenso fast gänzlich aus wie zur deutschen Erstaufführung
von Alfred Schnittkes Gelbem Klang (1973/74/1983) nach
Kandinskys Bühnenkomposition von 1912 ganz abgesehen
davon, dass Schnittkes Pantomime hier gestrichen wurde. Der 1998
verstorbene Schnittke hat in dem Werk für Mezzospran, Chor
und Orchester in gewohnt raffinierter Weise Gefundenes zusammengetragen,
Bekanntes zitiert, Altes verfügbar gemacht und in eine klare
Form gebracht, deren Inhalt nicht zuletzt von der raffinierten Sprachbehandlung
lebt. Die Hallenser Madrigalisten (Einstudierung Helko Siede), ein
semi-professionelles Ensemble, präsentierten sich mit professionellem
Chorklang.
Das unterschiedlich beleuchtete Bild Merkels vermochte man indes
kaum mit dieser Komposition in Einklang zu bringen ebenso
wenig wie mit Nikolaj Rolawez Sinfonischer Dichtung In
den Stunden des Neumondes.
Die Stunde der bestens disponierten Philharmonie aus Halle hätte
eigentlich bei Mahlers überirdischen Rückert-Liedern schlagen
müssen, allein Eberhard Kloke lotete die Feinheiten von Mahlers
instrumentalem Welttheater nur selten aus und lieferte eine eher
unterkühlte Lesart der Lieder.