[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 50
49. Jahrgang | November
Musiker und Musikerzieher
Berufe im Wandel
Fit for Job oder: Das Ende Ästhetischer Erziehung?
Zur Sendereihe des Bayerischen Rundfunks Ästhetische
Erziehung · Von Jürgen Vogt
Der Musik als Schulfach geht es nicht gut. Greift man auf Umfragen
und Wahlverhalten zurück, so steht der Musikunterricht nicht
gerade in der Gunst der Schüler. Das Burn-Out-Syndrom ist unter
Musiklehrern verbreitet. Und wenn man weniger den Sonntagsreden
der Politiker glaubt als ihren Erlassen, so gehört Musik zu
denjenigen Fächern, die einer Neustrukturierung des Fächerkanons
auf die eine oder andere Weise zum Opfer fallen werden. Schon aus
diesen Gründen sollte man sich eigentlich freuen, wenn auch
im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Argumente vorgebracht werden,
die für den Erhalt oder sogar für den Ausbau des Schulfaches
Musik eingesetzt werden können. Eine solche Argumentationshilfe
verspricht die Reihe Ästhetische Erziehung von
S. Reeh, die der Bayerische Rundfunk vom 17. September an ausstrahlt
und durch ein Paket von Videokassetten und Begleitbuch multimedial
ergänzt.
Diese Vorfreude wird allerdings bereits durch die Pressemitteilung
getrübt: In der Ästhetischen Erziehung gemeint
sind Musik-, Kunst-, Theater-, Tanz- und Medienpädagogik ,
so liest man, gehe es um die Vorbereitung auf die sozio-ökonomischen
Anforderungen des 21. Jahrhunderts. Angesprochen werden dann allerdings
nur noch die ökonomischen Anforderungen, genauer: die für
das Management mittlerer Ebene geforderten Sekundärtugenden
wie Verantwortungsbewusstsein, Disziplin, Flexibilität,
Belastbarkeit, Sozialkompetenz und Leistungsbereitschaft (Pressemitteilung).
Zudem sollen Kinder mit Hilfe der Ästhetischen Erziehung schneller
und effizienter lernen.
Von einem Eigensinn der Ästhetischen Erziehung ist also nicht
die Rede, wohl aber von einem ganzen Bündel von Transferwirkungen,
die sie nach sich ziehen soll. Der erste Teil, der sich der Musikpädagogik
widmete, bestätigte leider diese Vorahnung. Musikunterricht,
so hört man, ist ein Trainingscamp, in dem man lernt, sich
in der Gesellschaft von morgen zu behaupten. O-Ton:
Nur wer fachübergreifend und vernetzt denken kann,
wer schnell und flexibel ist, wird auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft
erfolgreich sein.
Dieses Credo durchzieht dann auch den gesamten Beitrag. Zwar erfährt
man kaum etwas über musikdidaktische Konzeptionen, wohl aber
wird der Zuschauer mit Worthülsen wie Kreativität,
Innovation, Ganzheitlichkeit und Vernetzung
traktiert, als gewännen diese Vokabeln durch fortwährende
Wiederholung an Inhalt. Worin der musikpädagogische Zugewinn
der gezeigten Beispiele aus Deutschland und der Schweiz liegen soll,
bleibt leider ebenfalls unklar. Als Schreckgespenst wird ein Bild
von Schule aufgebaut, in der per Frontalunterricht stumpfsinnig
Fakten eingepaukt werden. Gegen diesen Popanz wird dann das übliche
Arsenal reformpädagogischer Begriffe aufgefahren, das mindestens
seit 100 Jahren bekannt ist. Dass der Mensch mit Kopf, Herz und
Hand (also ganzheitlich) lernen solle, forderte schon
Pestalozzi, und dass der Projektunterricht (fächerübergreifend)
eine neue (musik)pädagogische Errungenschaft sei, wird man
kaum behaupten können. Auch um neue musikalische Inhalte und
Gegenstände geht es offensichtlich nicht, denn von diesen ist
gar nicht die Rede. Im Zentrum des Beitrags stehen einzig und allein
Sekundärtugenden, die man mit einigem Wohlwollen auch als Schlüsselkompetenzen
identifizieren könnte, die in ein Konzept formaler Bildung
eingebettet sind. Das altmodische Wort Bildung mag aber
niemand mehr so recht in den Mund nehmen, wenn es doch um neuronale
Vernetzungen im Gehirn geht, und als zusätzliches Bonbon winkt
den Schülern schließlich ärztlich beglaubigt
ein stabileres Immunsystem durch Musikunterricht.
Ein Hauch von Bildung wird aber doch eingeklagt. Im Musikunterricht,
wie auch in den anderen ästhetischen Fächern, gehe es
letztendlich darum, zur geistigen und moralischen Eigenständigkeit
anzuleiten und dem menschlichen Bedürfnis zu entsprechen,
sich individuell zu entfalten und auszudrücken.
Diese Bildungsprogrammatik und dies ist das eigentlich Bedenkliche
steht aber im krassen Gegensatz zur Stoßrichtung des
Gesamtbeitrags. Von Eigenständigkeit, Ausdrucksfähigkeit
und Individualität ist ansonsten nämlich nicht viel die
Rede. Ganz im Gegenteil: Die Fähigkeit zum Einordnen
in eine Gemeinschaft, ist, wie ein Lehrer formuliert, eine
der zentralen Sekundärtugenden, die durch Musikunterricht gefördert
werden soll. Gerät auch nur ein Kind aus dem Takt, bricht
das ganze System zusammen dies ist die Lektion aus
einem Kreisspiel. Und an anderer Stelle. Es zählt nicht
die Einzelleistung, sondern das im Team Erarbeitete
dies als Ertrag des Projektunterrichts.
Ziel des Musikunterrichts ist also gerade nicht das eigenständige,
im klassischen Sinne gebildete Individuum, sondern der
ein- und unterordnungswillige Teamarbeiter. Dieser ist aber keineswegs
ein Individuum, sondern jemand, dessen Biografie nur noch ein von
ökonomischem Wandel bestimmtes Stückwerk ist. Der amerikanische
Soziologe Richard Sennett beklagt in seiner 1998 erschienenen Studie
Der flexible Mensch gerade die Korrosion des Charakters
(so der amerikanische Originaltitel) als Resultat des zeitgenössischen
flexiblen Kapitalismus.
Le Quan Ninh
Foto: M. Hufner
Zu Sennetts desillusionierenden Befunden gehört auch, dass
die Teamarbeit nur eine Maske der Kooperativität
darstellt; eine Fiktion, die Eigenverantwortlichkeit und Kommunikation
vorgaukelt, aber letztlich dazu dient, die tatsächlich vorhandenen
Machtstrukturen innerhalb von Unternehmen unlesbar zu
machen und die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten zu erschweren.
Entscheidend ist aber vor allem, dass Arbeitnehmer über tragbare
Fähigkeiten verfügen müssen, also abstrakte,
vielseitig einsetzbare Kompetenzen, die nicht auf ein Berufsbild,
eine Karriere, einen sozialen Status festgelegt werden können.
Der flexible Mensch ist disponibel und kann daher, so
Sennett, gar keinen Charakter im althergebrachten Sinne
ausbilden. Veränderbarkeit und Lernfähigkeit, die auch
im Konzept der Bildung stecken, verwandeln sich in beliebige
Formbarkeit und kritiklose Verfügbarkeit.
Das klingende Klassenzimmer singt das hohe Lied dieser
Formbarkeit, und dies ausgerechnet im Namen der Ästhetischen
Erziehung. Zwar weist die Autorin darauf hin, dass unser Wissen
ohnehin im Eiltempo seine Gültigkeit verliert, aber ein Rückgriff
auf die Tradition der Ästhetischen Erziehung sei dennoch erlaubt.
Vor mehr als 200 Jahren entwarf Friedrich Schiller das Programm
einer Ästhetischen Erziehung, in dem eine weit
gefasste ästhetische Erziehung die Menschen von den negativen
Folgen des Rationalismus und der aufkommenden Industrialisierung
kurieren sollte. Der vielzitierte Satz Schillers, der Mensch sei
nur da ganz Mensch, wo er spiele, ist ja nichts anderes als die
Klage darüber, dass der Mensch in anderen Arbeitszusammenhängen
eben nicht ganz Mensch ist. Man mag gegen die Idee einer
solchen ästhetischen Kur mancherlei einwenden, doch ist Schillers
Utopie meilenweit entfernt von der Funktionalisierung der Ästhetischen
Erziehung für die schöne neue Arbeitswelt. Ästhetische
Erziehung ist, wie es der Pädagoge K. Mollenhauer einmal formuliert
hat, immer auch ein pädagogisches Sperrgut, da
in ihr Erfahrungen vermittelt werden können, die sich eben
nicht nahtlos in den Alltag der Warenproduktion und -konsumption
eingliedern lassen. Wo, wenn nicht in der allgemein bildenden Schule,
könnte die Erfahrung vermittelt werden, dass dieser Alltag
auch ganz anders sein könnte? Diese Idee ist aber offensichtlich
so abwegig geworden, dass sie nicht einmal mehr erwähnt wird.
Der eindimensionale Mensch (Marcuse) erhält auch
die zu ihm passende eindimensionale Musikpädagogik.
Schule als Trainingscamp der
Wirtschaft ?
Die Forderung der Autorin, das Bildungssystem müsse auf gesellschaftliche,
sprich: ökonomische Veränderungen reagieren, zeugt darüber
hinaus von einem merkwürdigen Verständnis vom Auftrag
der allgemein bildenden Schule. Die allgemein bildende Schule ist
eine Institution der Gesellschaft, sie ist kein Trainingscamp der
Wirtschaft, das überdies mit Steuermitteln finanziert wird.
Wenn die Wirtschaft, als Teil der Gesellschaft, mit einer partiellen
Berechtigung an die Schule bestimmte Anforderungen stellt, so müsste
umgekehrt die Frage erlaubt sein, was die Wirtschaft eigentlich
für die Schule tut, außer per Werbung und Product-Placement
künftige Konsumenten heranzuziehen. Eigentlich dürfte
sich niemand wundern, wenn Jugendliche als angehende Arbeitnehmer
konsum- und freizeitorientiert, und keineswegs teamfähig, diszipliniert,
belastbar und leistungsbereit sind, denn genau das ist das Ideal,
das die Werbung vermittelt. Die Wirtschaft predigt Wein das
Schlaraffenland des ungebremsten Konsums und trinkt das Wasser
der Arbeitsaskese. Hier soll dann ausgerechnet die Schule korrigierend
eingreifen und die Schüler fit for Job machen.
Ach ja irgendwann sagte eine Schülerin: Musik
braucht man einfach, weil, es ist halt so schön. Darüber
hätte man gerne mehr erfahren.