[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 3
49. Jahrgang | November
Feature
Die bessere Zukunft beginnt in der Gegenwart
Das nationale System der Kinder- und Jugendorchester in Venezuela
· Von Daniela Rüdiger
Seit 25 Jahren existiert in Venezuela ein Netzwerk von Kinder-
und Jugendorchestern, das mittlerweile über 110.000 Mitglieder
zählt. Neben der musikalischen Arbeit, die tagtäglich
in den 76 Musikzentren geleistet wird, erfüllt die Fundación
del Estado para el Sistema Nacional de Orquestas Juveniles e Infantiles
(FESNOJIV) auch eine soziale Funktion, indem sie den Kindern
und Jugendlichen, die zum Großteil aus sozial schwachen Familien
stammen, eine sinnvolle Alternative der Freizeitgestaltung und eine
mögliche Berufsaussicht bietet.
Die
FESNOJIV ist damit zu einem Musterbeispiel sozialer Kulturarbeit
geworden, das weltweit seines Gleichen sucht. Neue musikpädagogische
Ansätze haben hier die traditionelle Art des Lernens und Erlebens
von Musik revolutioniert und sind zum Modellbeispiel für viele
andere Länder geworden. Als sich 1975 acht junge venezolanische
Musiker in Caracas zusammenfanden um ein Jugendorchester zu gründen,
geschah dies aus der Erkenntnis heraus, etwas müsse sich an
der Situation junger Musiker im Land ändern. Damals exis-tierten
in Venezuela genau zwei Sinfonieorchester, die jeweils zu 95 Prozent
mit Instrumentalisten aus Europa und Nordamerika besetzt waren.
Für venezolanische Musiker war es fast aussichtslos, in einem
der beiden Orches-ter eine Anstellung zu finden.
Die Idee, ein Orchester für junge venezolanische Musiker ins
Leben zu rufen, stieß daher auf soviel Interesse, dass binnen
weniger Monate neben dem Orquesta Nacional Juvenil de Venezuela
mit Sitz in Caracas noch vier weitere Jugendorchester in Maracay,
Barquisimeto, Valencia und Trujillo gegründet wurden.
Strukturen aufbrechen
Doch dies sollte nur der Anfang einer umfassenden Vision sein.
José Antonio Abreu, Pianist, Dirigent und promovierter Wirtschaftswissenschaftler,
hatte es sich zum Ziel gesetzt, die elitären Strukturen aufzubrechen,
die seit Jahrzehnten im musikalischen Leben Venezuelas vorherrschten,
sowie die Musikausbildung zu einem Grundrecht aller Kinder und Jugendlichen
des Landes zu machen. Der Staat hatte die Notwendigkeit musikalischer
Erziehung in Schulen noch nicht erkannt und der Unterricht in den
privaten Musikschulen war für die Mehrheit der Bevölkerung
nicht bezahlbar.
Foto: D. Rüdiger
Abreu entwickelte mit der Gründung der FESNOJIV ein System
von Musikzentren (Núcleos), welches sich heute
über ganz Venezuela erstreckt und mittlerweile in jedem der
22 Bundesstaaten Venezuelas zu finden ist. Unabhängig von sozialer
Herkunft und Hautfarbe haben Kinder und Jugendliche hier die Chance
ein Instrument zu erlernen und in einem Orchester mitzuspielen.
Der Unterricht ist dabei kostenlos, und die Organisation stellt
den Teilnehmern die benötigten Instrumente zur Verfügung.
Im idealen Fall sind in einem Núcleo ein Orchester für
Kinder im Vorschulalter (47 Jahre), ein Kinderorchester (814
Jahre) und ein Jugendorchester (1525 Jahre) zu finden. Neben
dem individuellen Instrumentalunterricht erhalten die Teilnehmer
außerdem Unterricht in Musiktheorie und Rhythmik, der Schwerpunkt
liegt jedoch auf der Arbeit im Orchester.
Von Montag bis Freitag sind die Kinder und Jugendlichen jeden Nachmittag
mehrere Stunden in die musikalische Arbeit der Núcleos involviert
und erarbeiten im Individualunterricht sowie in Satz- und Orchesterproben
ein sinfonisches Repertoire, welches regelmäßig in Konzerten
dem lokalen Publikum vorgestellt wird.
Die musikpädagogischen Methoden, mit denen die FESNOJIV arbeitet,
sind dabei ebenso revolutionär wie erfolgreich. Ein zentraler
Punkt ist die unmittelbare Orchestereinbindung. Vom ersten Tag an
spielen die Kinder in einem Orchester ihrer Altersklasse, um das
gemeinsame Musizieren so schnell wie möglich zu erlernen. Die
positiven Erfahrungen zeigen, dass der musikalische Lernprozess
dadurch beschleunigt und die Motivation der Kinder durch das Zusammenspiel
gesteigert wird.
Das Repertoire der Orchester umfasst das gesamte Spektrum europäischer
und lateinamerikanischer Musik. Von Beethoven, Tschaikowsky und
Mahler bis Ginastera, Villa-Lobos oder Estévez wird alles
gespielt, was gefällt.
Frage nach dem Sinn
Der oft gestellten Frage, warum ein venezolanisches Kinderorchester
die Ungarischen Tänze von Brahms spielt und warum in Venezuela
überhaupt in einem traditionellen Sinfonieorchester nach europäischem
Vorbild musiziert wird, können mehrere Antworten entgegengehalten
werden:
Erstens hat die durch die ersten spanischen Siedler im 16. Jahrhundert
importierte klassische Musik aus Europa den Grundstein für
die eigenständige Entwicklung der klassischen Musik in Venezuela
gelegt, die mit der Schule von Chacao gegen Ende des
18. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt erreichte. Nach einem
hauptsächlich durch den Unabhängigkeitskrieg geprägten
Jahrhundert erholte sich das venezolanische Musikleben gegen 1870
nur langsam und bekam erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder
Aufschwung durch Vicente Emilio Sojo, der als Hauptfigur der modernen
venezolanischen Schule bekannt ist und 1930 das erste Sinfonieorchester,
das Orquesta Sinfónica Venezuela, gründete.
Die Geschichte der klassischen Musik kann in Venezuela also rund
400 Jahre zurückverfolgt werden, so dass von der Übernahme
einer rein europäischen Tradition nicht die Rede sein kann.
Zweitens macht es ganz einfach Spaß, weltbekannte Werke
bedeutender Komponisten zu spielen, seien sie nun aus Europa oder
aus Lateinamerika. Schließlich leben in Venezuela heute
Bevölkerungsgruppen der verschiedensten Traditionen mit ihren
kulturellen Besonderheiten zusammen, wobei karibische, spanische,
indianische und kreolische Einflüsse die Bausteine eines
vielschichtigen und abwechslungsreichen Musiklebens sind.
Drittens ist es inzwischen nahezu unumstritten, dass die Beschäftigung
mit Musik die Ausbildung wichtiger sozialer Kompetenzen unterstützt
und die Persönlichkeitsentwicklung fördert. Ein Sinfonieorchester,
das in seiner Form mit dem Aufbau einer Gesellschaft vergleichbar
ist, in der jeder Verantwortung übernehmen muss und eine
Rolle beziehungsweise Stimme zu spielen hat, ist dabei
ein idealer Ort, um diese zu vermitteln. Solidarität, Teamfähigkeit,
Kreativität, Geduld, Disziplin, Konzentrationsvermögen,
Verantwortungsbewusstsein und Kontinuität können hier
erlernt werden.
Doch die FESNOJIV versteht sich nicht in erster Linie als Kulturorganisation,
sondern eher als ein soziales Musikprojekt, dessen Zielgruppe die
Kinder und Jugendlichen Venezuelas sind. Oft stammen sie aus ärmeren
Familien und werden durch die Musik davor bewahrt, ihre Kindheit
in einem Umfeld bestehend aus einer ständigen Konfrontation
mit Gewalt, Kriminalität, Drogen und Prostitution zu erleben.
Es gibt Schätzungen, nach denen mehr als 30 Prozent der venezolanischen
Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt, die international
bei fünf Mark pro Tag festgelegt wurde. Ihnen soll mit Hilfe
der Musik eine neue Lebensperspektive eröffnet und eine Alternative
zu ihrem bisherigen Leben angeboten werden.
Musik als Lebensmittelpunkt
Foto: D. Rüdiger
Sehr deutlich wird der große Erfolg der FESNOJIV am Beispiel
des Kinderorchesters im Heim Gustavo H. Machado de los Chorros
in Caracas. Hier leben Kinder, die von ihren Eltern verlassen oder
misshandelt wurden, auf der Strasse gelebt haben und straffällig
geworden sind. 70 von ihnen erhalten seit 1997 Musikunterricht,
35 spielen bereits im Orchester. Nach einer schwierigen Anfangsphase
voller Skepsis und Zweifel seitens der Kinder ist die Musik für
sie mittlerweile zu einem der zentralen Punkte ihres Lebens geworden.
Besondere Aufmerksamkeit durch Individualunterricht, das Übernehmen
von Verantwortung mit einer eigenen Stimme im Orches-ter, Anerkennung
durch den Applaus des Publikums und eine Möglichkeit, Gefühle
und Ängste auszudrücken, leisten hier einen wohl kaum
zu bemessenen Beitrag zur Resozialisierung in die Gesellschaft und
zur Verarbeitung der individuellen Schicksale, die die Kinder in
ihrem bisherigen Leben erleiden mussten.
Der venezolanische Staat hat erkannt, dass die Ausbildung der
Kinder und Jugendlichen einer der Grundsteine für die erfolgreiche
Zukunft des Landes ist, immerhin sind rund 50 Prozent der venezolanischen
Bevölkerung jünger als 25 Jahre, 30 Prozent sogar jünger
als 15 Jahre.
Bereits vier Jahre nach der Gründung der ersten Jugendorchester
hat die Regierung das entstehende System der Kinder- und Jugendorchester
1979 zu einer staatlichen Stiftung, der Fundación del
Estado para el Sistema Nacional de Orquestas Juveniles e Infantiles
de Venezuela (FESNOJIV) ernannt. Infolgedessen hat Venezuela
als eines der wenigen Länder Lateinamerikas die Finanzierung
einer auf dem kulturellen Sektor arbeitenden Organisation übernommen.
Ein Modell macht Schule
1995 beschloss die UNESCO, ein weltweites System von Kinder- und
Jugendorchestern zu errichten, das auf den venezolanischen Erfahrungen
basiert. José Abreu wurde 1998 zum Sonderbotschafter der
UNESCO für diese Mission ernannt.
Wechselnden Regierungen und Präsidenten sowie kulturpolitischen
Veränderungen zum Trotz hat die FESNOJIV all die Schwierigkeiten
gemeistert, denen schon so viele andere Organisationen zum Opfer
gefallen sind. Im Gegenteil, sie hat sich jedes Jahr vergrößert.
Bis heute haben sich in Venezuela 76 Núcleos mit 102 Jugendorchestern,
55 Kinderorchestern, 20 Orchestern für Kinder im Vorschulalter
und 28 professionelle Orchester gebildet und immer noch kommen
mehr dazu. Zugleich ist das venezolanische Sys-tem zu einem Vorbild
für andere Länder Lateinamerikas und der Karibik geworden,
so haben sich etwa in Mexiko, Kolumbien, Ecuador, Paraguay und der
Dominikanischen Republik inzwischen Kinder- und Jugendorchester
nach diesem Modell gebildet.