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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 34
49. Jahrgang | November
Jeunesses
Musicales Deutschland
Jahrhundertereignis in Bad Mergentheim
Der Würth-Preis der Jeunesses Musicales Deutschland
geht nach Venezuela
Das Konzert des Nationalen Venezolanischen Kinderorchesters
ist ein Jahrhundertereignis so äußerte sich
Professor Reinhold Würth, als er am 28. September 2000 in der
dicht gefüllten Wandelhalle von Bad Mergentheim den 10. Würth-Preis
der Jeunesses Musicales Deutschland in Höhe von 30.000
Mark an eben dieses Orchester übergab.
Es ist mehr als wahrscheinlich, vielleicht sogar gewiss, dass ale
Zuhörer bei diesem Konzert ein ähnliches Gefühl hatten
wie Professor Würth. Die Selbstverständlichkeit, die Leichtigkeit
und vor allem die Freude, mit der die 170 Kinder auf der Bühne
saßen und musizierten, zum großen Teil mit ihren Instrumenten
verwachsen, übertrug sich so unmittelbar auf das vom ersten
bis zum letzten Ton sichtbar begeisterte Publikum, wie man es wohl
nur selten erlebt.
Das Nationale Kinderorchester Venezuela setzt sich
aus den talentiertesten Musikern der Venezolanischen Jugendorchesterbewegung
zusammen, die mit 157 bestehenden Orchestern zirka 110.000 Kinder
und Jugendliche in Venezuela erreicht. Die Kinder gehen zu den Musikschulen,
weil es dort etwas zu essen gibt und bekommen sofort auch
ein Instrument in die Hand gedrückt. Von der ersten Berührung
mit dem Instrument an spielen sie gleich in einem der zahlreichen
Orchester mit. Dort kommen sie dann mit Werten wie Liebe, Solidarität,
Zusammensein und Freude in Berührung, die sie bis dahin, in
einem Umfeld von Gewalt, Drogen und Missbrauch, noch nicht kennen
gelernt haben.
Durch das Programm führte sympathisch und kompetent Christian
Schruff, der durch seine Moderation verschiedener Musikprogramme
beim WDR bekannt geworden ist. So konnten die Zuhörer ziemlich
bald erfahren, dass es insgesamt 214 Kinder waren, die mit auf die
von der JMD initiierten Deutschlandtournee gefahren sind. Weil es
aber keine Bühne gibt, die Platz für über 200 Musiker
bietet, musste man sich eben abwechseln. Bei insgesamt neun Konzerten,
die das Orchester zur EXPO nach Hannover, nach Magdeburg, Münster,
Düsseldorf, Bad Mergentheim, Heilbronn, in die Philharmonie
von Berlin und nach München führte, gab es für jedes
Kind genügend Möglichkeiten mitzuwirken. Zunächst
erklang in der Bad Mergentheimer Wandelhalle unter dem Dirigat des
18-jährigen Gustavo Dudamel Richard Wagners Ouvertüre
zu Rienzi, der letzte der Tribunen und Francesca
da Rimini eine symphonische Fantasie nach Dante von Peter
Tschaikowsky. Danach folgte der Welt schnellste Interpretation des
4. Satzes aus Tschaikowskys 4. Symphonie in f-Moll.
Das ausgezeichnete Venezolanische
Kinderorchester mit seinem jungen Dirigenten.
Foto: Anja Herbach
In seiner Laudatio zur Würth-Preis-Verleihung nach der Pause
sprach Professor Martin Christoph Redel, Vorsitzender des Bundesvorstands
der JMD, anerkennend über die Einzigartigkeit der Verbindung
von Kultur- und Sozialarbeit sowie den musikpädagogischen Ansatz
der 1975 von Dr. José Antonio Abreu gegründeten venezolanischen
Jugendorchesterbewegung. Die JMD könne als Fachverband deutscher
Jugendorchester viel von dieser Initiative lernen.
Dr. Abreu bedankte sich für die Ehre, die man der Jugendorchesterbewegung
durch den Preis zukommen lasse. Das Geld werden wir für
den deutsch-venezolanischen Orchesteraustausch verwenden,
stellte der Gründervater der Initiative in Aussicht. Nach diesem
offiziellen Teil stellten die 170 Kinder, die inzwischen in die
venezolanischen Nationalfarben gekleidet waren, drei musikalische
Momente aus Amerika vor: Sensemaya von Silvestre Revueltas,
Melodia en el Llano von Antonio Estévez und den
Mambo aus der West Side Story von Leonard Bernstein.
Zu diesen Stücken hatten sich die jungen Musiker Showeinlagen
ausgedacht, die fast an eine Choreografie erinnerten und die Stimmung
noch ausgelassener werden ließen. Aufgrund der nicht enden
wollenden stehenden Ovationen des Publikums ließ sich das
Orchester zu einem bunten, immer lebhafter werdenden Reigen von
Zugaben hinreißen, den die Zuhörer mit Begeisterung quittierten.
Die JMD hatte das Nationale Kinderorchester Venezuelas auf eine
Deutschland-Tounee eingeladen, weil sie überzeugt ist, dass
man hier viel von diesem Ensemble lernen kann. Man erkennt unmittelbar,
zu welchen Leistungen Kinder und Jugendliche fähig sind, wenn
man sie dazu motiviert. Erstaunlich ist dabei, dass es sich hier
um Kinder und Jugendliche handelt, die oft in Slums am Rande der
Gesellschaft aufwachsen. Die Annahme, dass man gerade solchen Kindern
derartige Leistungen nicht zutraut, wird durch das Venezolanische
Kinderorchester widerlegt. Daher ist die technische Perfektion des
Orchesters keineswegs mit Drill verbunden. Von den jungen
Musikern geht eine starke emotionale Kraft aus, der sich wohl niemand
in den Konzerten auf deutschen Bühnen entziehen konnte. Damit
bestätigt nun das venezolanische Jugendorchester auf glänzende
Weise, dass Kulturarbeit und Sozialarbeit keine Gegensätze
sind sondern sich in wunderbarer Weise ergänzen können.
Besondere Bedeutung gewinnt die Arbeit des Venezolanischen Kinderorchesters
dadurch, dass hier die übliche Einbahnstraße des Kulturexports
von den Ländern des Nordens in den Süden der Welt umgedreht
wurde. Die deutsche Musikwelt kann auf ihrem ureigensten
Gebiet, dem der Sinfonik und Orchesterausbildung, ungemein viel
von einem Orchester aus einem der armen Länder unserer Erde
lernen.