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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 14
49. Jahrgang | November
Musik
in Städten
Die schönste Vorstadt von Berlin
Ein Streifzug durch Potsdams abwechslungsreiches Musikleben
Das ganze Eyland muss ein Paradies werden, forderte
der Statthalter des Großen Kurfürsten anno 1664 in Kleve,
als das Gespräch auf Potsdam kam. Friedrich der Große
und seine Nachfolger verwirklichten in Stadt und Umgebung diesen
Traum, begründeten den kulturellen Ruf und Ruhm der zweiten
Residenz der preußischen Herrscher. In praxi war sie oftmals
sogar die erste. Dennoch wurde die havelländische Idylle bereits
um 1800 von Jean Paul als die schönste Vorstadt von Berlin
bezeichnet. Das ist sie bis zum heutigen Tag geblieben. Ein Appendix-Trauma,
unter dem sie noch immer leidet.
Dabei kann gerade ihr eng miteiander verzahntes Musikleben mit
eigenständiger und durch aus konkurrenzfähiger Vielfalt
aufwarten. Es findet vorwiegend in prächtigen architektonischen
und akustisch vorzüglichen Innenräumen statt. Zu großen
Teilen wurden sie vom königlichen Flötenspieler von Sanssouci
(Schlosstheater im Neuen Palais) oder dem cellostreichenden Friedrich
Wilhelm II. (Palmensaal der Orangerie Neuer Garten) geschaffen.
Doch auch Außenanlagen wie die Römischen Bäder und
der Säulenhof der Orangerie Sanssouci gleich anderen
Lustschlössern eingebettet in die von Peter Lenné erschaffene
Potsdamer Parklandschaft sind längst zu musikalischen
Lustbarkeitsorten geworden.
Modell für eine verjüngte
Musikkultur: Der Nicolaisaal, Potsdams Konzert- und Veranstaltungszentrum.
Foto: S. Müller
Zu ihnen gesellt sich seit Ende August diesen Jahres der von dem
französischen Architekten Rudy Ricciotti für 30 Millionen
Mark um- und neugebaute Nikolaisaal als Konzert- und Veranstaltungshaus,
in dem fortan das musikalische Herz Potsdams in seiner historischen
Mitte schlägt. Die Spuren seiner Vergangenheit sind sichtbar
geblieben, die Architektur aus dem Geist der Musik geboren. Des
Saales computerberechnete Akustik verheißt Verwöhnklänge
der zartesten Versuchungen.
Geplant und gebaut wurde der Nikolaisaal für die Brandenburgische
Philharmonie Potsdam (BPP). Bis zum Ende der vergangenen Spielzeit
gehörte sie zu den wichtigsten kulturellen Institutionen der
Stadt. Finanzielle Engpässe sowie kulturpolitische Querelen
führten trotz massiver Proteste und Bürgerbegehren sowie
einer ins Auge gefassten, eifrig betriebenen und dann ad acta gelegten
Fusion mit dem Staatsorchester Frankfurt (Oder) zu deren Abwicklung.
Ein neues Hausorchester für den Nikolaisaal sollte aus Potsdamer
Musikern geschaffen werden. Verschiedene Kandidaten bewarben sich.
Den Zuschlag erhielt kürzlich die Kammerakademie Potsdam, eine
Verbindung aus dem renommierten Ensemble Oriol Berlin und dem neunköpfigen
Persius-Ensemble Potsdam. Letzteres bereichert das hiesige Musikleben
mit der Reihe Musik und Architektur an dafür passenden
Orten. Spielfähig soll das Kammerorchester, das zwar den Auftrag,
aber noch keinen Vertrag in der Tasche hat, ab der Spielzeit 2001/2002
sein.
Sinfonische Grundversorgung
Bis dahin wird die sinfonische Grundversorgung vom
Staatsorchester gesichert, das seine Frankfurter Produktionen je
zwei Mal im Nikolaisaal spielt. Der Zuspruch des Potsdamer Publikums
hält sich bislang noch in Grenzen. Ganz anders beim Besuch
der Potsdamer Konzerte. Seit kurzem liegt ihr programmatischer
Schwerpunkt auf Crossover-Projekten. Sie reichen vom ungewöhnlichen
Klassik-Mix (Brandenburger Symphoniker) über traditionsreiche
Filmlivekonzerte (Deutsches Filmorchester Babelsberg) bis hin zu
Jazz-Adaptionen.
Deren Interpreten finden auch im Babelsberger Lindenpark,
einem ehemaligen staatlichen Klub- und Kulturhaus, seit 1990 ihre
erste Adresse. Dort kann sich mit Heavy Metal, True Rock oder HipHop
lautstark austoben, was den Nerv der Jugendlichen trifft. Ihre harte
Gangart haben viele Bandmitglieder in der für Popularmusik
zuständigen Babelsberger Zweigstelle der Musikschule Johann
Sebastian Bach erlernt. Schwerpunkt ihrer eigentlichen Arbeit
bildet das Gemeinschaftsmusizieren vom Duo bis zur BigBand und zum
Jugendsinfonieorchester. Dieses, wie auch der gemischte Chor und
der große Kinderchor, erhält nun im Nikolaisaal neue
Auftrittsmöglichkeiten. Öffentliche Aufmerksamkeit finden
die Eleven auch mit ihrer monatlichen Reihe Potsdamer Podium
und der Einladung an gestandene Künstler Zu Gast bei
uns. Einmal im Jahr musizierten die Besten der Musikschüler
mit der BPP.
Ob bei der Kammerakademie ein Interesse an der Fortführung
dieser Tradition besteht, wage ich zu bezweifeln, gibt sich
Direktor Prof. Wolfgang Thiel wenig optimistisch. Auch er gehört
mit Gerhard Rosenfeld, Gisbert Näther, Bernhard Opitz und Karl-Ernst
Sasse zu den ortsansässigen Komponisten, deren Werke häufig
bei den Konzerten des Vereins musikalisch-literarischer Soireen
im Alten Rathaus e.V. erklingen.
Musikfestspiele Potsdam
Einen guten Klang in Potsdam haben auch die Musikfestspiele Potsdam
Sanssouci, deren GmbH auch als Betreibergesellschaft für den
Nikolaisaal fungiert. Bis zur Wendezeit als Parkfestspiele veranstaltet
und in die Potsdamer Musikgeschichte eingegangen, widmen sie sich
nun jeweils einem speziellen Thema aus der preußisch-brandenburgischen
Geschichte. In diesem Jahr war es die beziehungBach,
im kommenden steht im Rahmen der Bundesgartenaustellung die Musik
im Spannungsfeld von Natur und Garten.
Wie gehabt, werden drei Wochen lang im Juni Werke alter und neuer
Meister erklingen. Darunter erneut Opernausgrabungen (in diesem
Jahr war es Alessandro nellIndie von Johann Christian
Bach) aus dem barocken bis frühklassischen Bereich, der Spezialstrecke
des Musiktheaterangebots, dem sich auch das Hans-Otto- Theater widmet.
Da bis zum Juni 2001 das Schlosstheater renoviert wird, hofft man
auf eine musikdramatische Oratorienaufführung in einer der
Potsdamer Kirchen. Deren Musikangebote tragen ganz erheblich zum
abwechslungsreichen Musikleben bei. In den Sommermonaten eines jeden
Jahres ist es der über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Internationale
Orgelsommer mit seinen zwölf Konzerten namhafter Solisten
(u.a. Matthias Eisenberg, Kilian Nauhaus), die wechselweise in der
Friedens- und der Erlöserkirche stattfinden.
Da die Potsdamer seit jeher gern singen, haben sie sich in zahlreichen
Chören zusammengeschlossen. An der Friedenskirche (am Park
von Sanssouci gelegen) sind es Oratorienchor, Kantorei und Vocalkreis,
allesamt geleitet von KMD Matthias Jacob. Die Kantorei an der Erlöserkirche
(über vierzig Jahre lang von Prof. Friedrich Meinel geprägt),
der Chor von St. Nikolai (Björn O. Wiede), die Kantorei der
Pfingstkirche (Matthias Trommer) sowie viele Singgemeinschaften
kleinerer Gemeinden in und um Potsdam pflegen das entsprechende
Repertoire von Bach bis Rosenfeld. Zu den ältesten Vereinen
der Stadt gehört der 1848 gegründete Potsdamer Männerchor,
der wie die Singakademie Potsdam (Horst Müller) im neuen Nikolaisaal
seine Heimstätte erhalten hat. Doch durch welches Orchester
werden sie an Stelle der abgewickelten Brandenburgischen Philharmonie
künftig Begleithilfe erfahren?
Ein reiches musisches Betätigungsfeld finden die Studiosi
im Universitätschor und -orchester (Sinfonietta Potsdam).
In diesem Ensemble spielte auch Knut Andreas mit, der seit 1999
die Liebhabervereinigung Collegium musicum künstlerisch
betreut. Wenn die Lehrer und Ärzte nicht gerade proben, gehen
auch sie in jene von der Agentur Barbara V. Heidenreich organisierten
Potsdamer Hofkonzerte. Diese sind mit ihren sehenswerten
Tanzproduktionen und hörenswerten Kammerkonzerten, bei denen
die Flöte im Mittelpunkt steht, mittlerweile zu einer feinen
Adresse im Potsdamer Musikleben geworden.
Wie weiland prophezeit, ist das ganze Eyland tatsächlich
zu einem musikalischen Paradies geworden.