[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 11
49. Jahrgang | November
Kulturpolitik
Tagebuch
Paradise now?
Der Kritiker Paul Bekker, ein Hell- und Weitsichtiger seines Faches,
hatte mit dem Künstler, von dem hier die Rede sein soll, gewisse
Schwierigkeiten. Er nannte ihn einen besonders nachdenklichen
und grüblerischen Menschen, glaubte aber, dass er in
seinem Klavierspiel die gedankliche Sezierung zuweilen bis
zur Selbstquälerei treibe. Hinter dieser Äußerung
stand die unfromme Sehnsucht ... nach dem verlorenen Paradies
des Virtuosentumes, und Bekker meinte damit das schöpferische
Virtuosentum eines Liszt, (Anton) Rubinstein, dAlbert
und Busoni. Verborgen blieb dem Feuilletonisten und Theatermann
Bekker, der Musik eines Schönberg gegenüber aufgeschlossen,
dass die Früchte des Paradieses in neue Gestalten mutiert waren,
in Figurationen des Widerstandes gegen das selbstgerechte Bedienen
von Konsumhaltungen. Ich spreche von der geistklaren Musikdramaturgie
des Pianisten und Komponisten Artur Schnabel.
Den Begriff Geistigkeit benutzten viele, die ihn kannten,
der Dirigent Bruno Walter zum Beispiel, der Musikkritiker und Historiker
Hans Heinz Stuckenschmidt (in seinem Spiel waren Generationen
deutschen Musik-Erlebens zusammengefasst). Geistigkeit, nicht
Objektivität, wie gelegentlich mit herabsetzendem Unterton
geschrieben wurde: Eine neuere Untersuchung fand sogar heraus, dass
der große Beethoven-Interpret die Tempo-Extreme liebte, und
Adorno beanstandete, nicht sehr einsichtig, die Überplastik
der gesungenen Melodien. Eindrucksvoller als Kritikerstimmen
sind Kollegenmeinungen: Alfred Brendel hob das eigentümlich
Sprechende des Beethoven-Spiels von Schnabel hervor, die
Freiheit und Kühnheit einer Deklamation, die die Musik unablässig
bis ins kleinste belebte, und Claudio Arrau rühmte an
dem Herausgeber der 32 Beethoven-Sonaten und der Diabelli-Variationen
(zusammen mit Carl Flesch hat er auch Sonaten für Klavier und
Violine von Mozart später heftiger Selbstkritik unterzogen
und die drei Violinsonaten von Brahms ediert), dass Schnabel
der erste war, dem es gelang, die natürliche Elastizität
der Tempi zu fixieren.
Die Schätze des neuen Paradieses sind in Berlin eingetroffen.
Die Stiftung Archiv der Akademie der Künste wird um den weitaus
größten Teil des Nachlasses von Artur Schnabel bereichert.
Nur einige Reinschriften sind in Washington Musikabteilung
der Library of Congress verblieben. Im September 2001 werden
eine umfangreiche Ausstellung und ein Symposion zu Artur Schnabel
stattfinden. Seine Söhne Karl Ulrich und Stefan waren davon
zu überzeugen, dass die Stadt, in der ihr Vater, gebürtiger
Österreicher aus einem kleinen Ort im heutigen Polen, 33 Jahre
gelebt hat, die angemessene Umgebung für die Bewahrung der
wichtigsten Zeugnisse seines Lebens- und Kunstweges sei. Von 1925
bis 1931 war er planmäßiger Professor für Klavier
an der Staatlichen akademischen Hochschule in Berlin. Er zog die
Konsequenzen, als sich unter der Mehrzahl der Lehrer ein nationalistischer
Geist breit machte und feiste, kahlköpfige ältere
Männer in Uniformen und braunen Hemden mit Hakenkreuzen im
Stechschritt durch die Straßen marschierten. Am 29.
April 1933 reiste er aus Berlin, aus Deutschland ab für
immer. Denn er war Jude.
Zweck der Wunde
Es gibt Sätze, die treffen ins Mark; sie lassen einen nicht
mehr los. Ein solcher Satz eröffnet den Text von Simone Mahrenholz,
überschrieben Musik-Verstehen jenseits der Sprache. Zum
Metaphorischen in der Musik, in dem bei Metzler erschienenen
Band Klang Struktur Metapher, der Ausformung
eines Berliner Symposions von Anfang Mai 1999. Der Satz lautet:
Musik mit Worten beschreiben heißt immer, so etwas wie
eine Wunde schlagen, eine Kluft bilden. An diesen Satz heften
sich Denkbilder, ihren Ausgang nehmend von der Symboltheorie Nelson
Goodmans (erstmalig 1968: Languages of Art). Das Ungenügen
an der verbalen Beschreibung brachte mich in den letzten Jahrzehnten
immer wieder zu der Frage: Kann man Musik verstehen? Ich suchte
sie zu beantworten durch die Musik selbst, was nur im Rundfunk möglich
war. Das Verstehen von Musik durch Musik ist auch der Ausgangsgedanke
von Simone Mahrenholz. Die Metaphern-Theorie Goodmans, die den Ausdruck
von Musik erweitert, also nicht notwendig auf Gefühlsinhalte
beschränkt, setzt nach Mahrenholz an die Stelle der nur bildlichen
Darstellung den bewussten Übergang in ein anderes
Medium. Musik verstehen heißt demnach, ihre Strukturen
anderswo wiederzuerkennen. Mit dem Verstehen und Erleben von
und durch Musik ist daher eine Umstrukturierung dieses Anderen
verbunden. Es kommt jetzt darauf an, die Wunde des Übergangs
zu schließen. Dazu gibt Mahrenholz etliche Hinweise;
der interessanteste scheint mir zu sein, Kunstwerke als Vokabular-
und Kategorienspender anzusehen, die bisher Ungehörtes,
Unerhörtes zu begreifen erlauben. Musik hilft, vereinfacht
gesagt, die Welt zu erkennen.
Damit ist freilich die Wunde des Übergangs, die Kluft nicht
aufgehoben. Das Kunst-Verstehen jenseits der Worte
etwa durch das Schaffen von Gegen-Werken im Sinne von George Steiner
bleibt auf die Kunst-Produzenten beschränkt. Die bestinformierte
verbale Kritik kann nicht verhindern, was Simone Mahrenholz (Karl
Kraus folgend) anschaulich beschreibt: Je genauer man das
Klang- bzw. Notenmaterial ansieht, desto ferner sieht es zurück.
Das kann aber heißen: Die Kluft vergrößert sich,
die Wunde wird schmerzhafter. Das Transzendieren von Grenzen,
auch der eigenen, ist als Ausweg eine Ideal-Vorstellung. Christian
Thorau (der den Band zusammen mit Michael Polth und Oliver Schwab-Felisch
herausgegeben hat) deutet in seinem Beitrag die weiterführende
Möglichkeit an, Kunstwerke selbst als Metaphern
zu betrachten und übt, nebenbei bemerkt, scharfe, formanalytisch
fundierte Kritik an der offen-vage(n) Metaphorik von
Paul Bekker, mit dem ich dieses Tagebuch eingeleitet habe. Wenn
jedwede Kunst Metapher ist, tragen alle Kunstwerke die Wunde mit
sich. Sie zu erkennen, ist dann der Zweck von Kunst.
Im Zwischenreich
Alle Vorstellungen sind ausverkauft. Sogar die vielzitierten Taxifahrer
reden darüber, nicht gerade ein Berliner Phänomen. Janácek,
der moderne Unmoderne, in seiner Größe oft noch Verkannte,
lässt aus Erwachsenen Kinder werden. (Ach würden sie es
doch wirklich, verachtend die faden Befriedigungen, staunend nur...)
Wird sich die Wahrheit mitteilen im leichtgewichtig Schweren, im
strukturgebunden Schönen, aus der geordneten Wirrsal von Tiermenschen
und Menschentieren, aus der Symbolwelt der Füchsin Bystrouka,
Füchslein Schlaukopf, das stahl, würgte, aber auch
edler Gefühle fähig ist (Janácek)? Felsenstein
war zur Premiere des Schlauen Füchsleins vor 45
Jahren an der Komischen Oper das Kunst-Stück gelungen, die
Glaubhaftigkeit des Unglaubhaften, die Wahrheit der Lüge Theater.
In Katharina Thalbachs ehrenvoll scheiternder Anstrengung an der
Deutschen Oper Berlin wollte nur wenig gelingen: Die Fülle
von Einfällen band sich nicht zur poetischen Einheit, lief
daher leer zur sinfonischen Einheit der Musik, die das Publikum
gnadenlos klatschend, gutwillig nichts ahnend, zerriss. Wie schön
dennoch, Hans Drewanz am Pult (Jiri Kout nachfolgend) wieder zu
begegnen, dem großen alten Mann aus Darmstadt mit seiner von
tiefem Verständnis geprägten JanácekDarstellung.
Da standen dessen Fensterchen in die Seele offen, die
Erfindungen aus Sprachmelodien. Was aber sah man? Den Verrat der
Metapher an die Wirklichkeit.