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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 1
49. Jahrgang | November
Leitartikel
Die neue Festivalitis Chance für den Jazz
Veranstaltungsboom, Ausbildung und ästhetische Entwicklungen
· Von Andreas Kolb
Der Herbst ist die Zeit der Jazzfestivals. Aus jeder Stadt tönt
ein anderer Sound und will bundesweit Jazzinteressierte anlocken.
Einige Beispiele: Das Jazzfest Frankfurt, 1953 von Horst Lippmann
gegründet, war lange Jahre eine der wichtigsten Keimzellen
des deutschen Jazz. Aus Frankfurts Szene kamen Musikerpersönlichkeiten
wie Albert Mangelsdorff, Heinz Sauer, Joki Freund, später dann
Volker Kriegel oder Christof Lauer. Noch heute gelingt es dem Jazzfest,
internationale Strömungen und die Frankfurter Szene in einem
gemeinsamen Kontext zu präsentieren.
Nürnbergs
Internationales Jazzfestival trägt seit 1966 den programmatischen
Titel Jazz-Ost-West. Doch die Ostkomponente ist in den
letzten Jahren stark in den Hintergrund getreten. Die Leipziger
Jazztage schafften es wenn auch hochsubventioniert
nach der Wende ihr eigenes Profil zu bewahren und weiter zu entwickeln.
München sieht sich gerne als Deutschlands heimliche Hauptstadt,
was aber außer den Münchnern niemand weiß. Im Konzert
der Jazzfestivals ist Münchens Stimme verstummt. Der ehemals
renommierte, von Friedrich Gulda mitbegründete Klaviersommer
ist de facto abgeschafft, nachdem die Landeshauptstadt sich aus
der Verantwortung zurückgezogen hat. Da hilft auch kein Jazz-Millenniumsfeuerwerk,
wie es diesen Sommer stattfand.
Und Berlin? Erst in diesem Jahr war das Jazzfest Berlin in die
Schlagzeilen geraten, weil Ex-Kultursenatorin Christa Thoben dort
den Rotstift ansetzen wollte. Ende September fiel jedoch die Entscheidung,
es in die vom Bund getragenen Kulturprojekte zu übernehmen.
Das Jazzfest Berlin ist ab 2001 Bundessache. Wie Programm und Konzept
aussehen, weiß noch keiner. Ein Nachfolger des künstlerischen
Leiters Albert Mangelsdorff, der nach der Saison 2000 aufhören
wird, steht noch nicht fest.
Allen genannten Festivals ist gemeinsam: Ihre Gründung liegt
Jahrzehnte zurück, reicht unter Umständen sogar bis zu
den Anfängen der Bundesrepublik. Entstanden sind sie in einer
Zeit, als Jazz im Bewusstsein von Künstlern und Publikum mit
ganz anderen Attributen und Werten besetzt war als heute. Jazz war
Freiheit, Rebellion, Selbstverwirklichung. Jazz griff Forderungen
der Bürgerrechtsbewegung in den USA auf, er begleitete die
außerparlamentarische Opposition in Deutschland (dies allerdings
nur am Rande, die musikalische Sprache der APO war die Rockmusik).
In der DDR entwickelte sich eine eigenständige Jazzszene an
den Rändern des offiziellen Kulturbetriebs. Das Image des Jazz
war fortschrittlich, er war radikale Absage an Frackpianisten und
den ganzen verzopften Klassikkonzertbetrieb.
Die alten Jazzer tragen ihre
Bundesverdienstkreuze
Von all dem ist heute keine Rede mehr. Jazz hat sich seine Refugien,
seine Anerkennung erstritten. Die alten Jazzer tragen ihre Bundesverdienstkreuze,
längst haben Jüngere das Ruder übernommen. Und die
betreiben Jazz pour Jazz, oder Jazz als Business. Wie zum Beispiel
der Trompeter Till Brönner, der bereits als Zwanzigjähriger
Mitglied des traditionsbewussten RIAS-Tanzorchesters wurde. Der
Trompeter ging hervor aus Fördermaßnahmen des Deutschen
Musikrates wie Jugend jazzt und dem Bundesjugendjazzorchester.
Früh studierte Brönner an der Musikhochschule Köln.
Ausgebildet in Jazz und Klassik steht er dabei für einen Typ
von Musiker, der in erster Linie sein Instrument lernt und sich
erst dann auf eine musikalische Gattung spezialisiert.
Junge Jazzmusiker wie Brönner profitieren von den seit den
80er-Jahren intensiv ausgebauten Hochschulausbildungsgängen
im Jazz- und Popularbereich. Doch auch diese stehen in einer Zeit,
wo Musikhochschulen allgemein einen Überschuss an gut ausgebildeten
Instrumentalisten und Musikpädagogen auf den Markt entlassen,
unter Legitimierungszwang. Es drohen Sparmaßnahmen. Erst wenn
die duale Klassik- und Jazzausbildung durchlässiger wird, braucht
der Jazz an der Hochschule nicht länger zu befürchten,
Anhängsel von Popular- oder Filmmusik zu werden. Dazu benötigt
man wiederum Dozenten, die entsprechend ausgebildet sind.
25 Jazzfestivals jedes Jahr
europaweit neu
Ein Blick in die Festivalprogramme zeigt, dass es inzwischen eine
Menge Musiker gibt (auch deutsche), die eine Improvisation über
Duke Ellingtons Mood Indigo genauso kompetent gestalten
wie eine über ein Motiv von Morricone oder ein Thema von Bach.
Ganz zu schweigen von den zahlreichen Grenzgängern zwischen
Jazz und Neuer Musik. Aus der Sicht der ausbildenden Institutionen
und deren Absolventen bleibt jedoch die Frage: Ist Jazzmusiker eigentlich
ein Beruf? Ein einheitliches Berufsbild, das etwa vergleichbar wäre
mit dem eines klassischen Musikers, existiert im Jazzbereich nicht.
Etwa 100 Sinfonieorchestern mit Stellen für etwa 7.000 Musiker
stehen derzeit noch vier Jazzorchester mit etwa 70 festen Stellen
gegenüber. Jazzmusiker zählt also zu den freien Berufen.
Vom Komponieren (außer man macht Filmmusik) sowie von Auftritten
leben die wenigsten, fast immer kommen Unterrichtsverpflichtungen
an Hochschule oder Musikschule dazu. Den Beruf des Jazzmusikers
kann eigentlich nur der ausüben, der auch etwas von Selbstmanagement,
PR, Werbung, Steuer und Buchführung versteht. Dinge, die erst
nach und nach in die Studienpläne der Hochschulen Eingang finden.
Dennoch, die Zeichen stehen zur Zeit nicht schlecht für den
Jazz. Rund 25 neue Jazzfestivals kommen jedes Jahr europaweit zu
den bestehenden hinzu, etwa 1.000 sind es bereits. Dies ergab eine
Marktforschungsstudie der Firma ACORN Consultants. Das ist eine
Steigerungsrate wie sie in anderen Wirtschaftszweigen erst einmal
erreicht werden muss. Und der Boom ist ungebrochen, denn die Bürgermeister
der vielen kleinen und mittleren Städte haben nachgerechnet:
Laut der Studie erbringt jede Mark, die als öffentliche Förderung
in eines der 325 deutschen Festivals investiert wird, durchschnittlich
das Sechsfache an Rückfluss vor Ort.
Gleichzeitig ist ein weiterer Trend zu beobachten: In vielen Großstädten
etablieren sich eigene Jazzreihen an den Staats- und Stadttheatern.
Auch von diesem Bedürfnis können Jazzmusiker eigentlich
nur profitieren. Jazz auf internationalem Niveau wird in Zukunft
immer weniger allein auf einigen Großfestivals zelebriert
werden, er findet im Gegenteil ein wachsendes Publikum auch an neuen
Orten. Dies ist eine kulturpolitische Chance, die die Verantwortlichen
in Stadt und Land ergreifen sollten.