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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 16
49. Jahrgang | November
Medien
Als Berlin noch Metropole war
Uraufführung der Filmmusik von Elena Kats-Chernin zum Stummfilm
Menschen am Sonntag
Seit sechs Jahren hat der Stummfilm einen festen Sendeplatz beim
deutsch-französischen Kulturkanal Arte. Mit den drei Schwerpunkten
Präsentation restaurierter Fassungen, Produktion neuer
Filmmusiken und Aufzeichnung von Live-Aufführungen hat
sich Arte zu einem gefragten Kooperationspartner für Archive,
Orchester und Veranstalter entwickelt. Am 16. November strahlt Arte
den Stummfilmklassiker Menschen am Sonntag aus, deren
neue Filmmusik von Elena Kats-Chernin vor wenigen Wochen auf den
Filmfestspielen in Karlsbad uraufgeführt wurde.
TV-Tipp:
16. November auf Arte: Menschen am Sonntag mit
der Dokumentation Weekend am Wannsee von Gerald
Koll
Anfang 1930 längst gab es den Tonfilm sorgte
ein gut einstündiger Stummfilm in Berlin für volle Kinos.
In der lapidaren Geschichte von Menschen am Sonntag
spiegelte sich das Zeitgefühl der pulsierenden Metropole und
ihrer vier Millionen Einwohner wider. Regie führte Robert Siodmak,
das Buch schrieb Billie Wilder nach einer Reportage des am 2. September
dieses Jahres kurz nach seinem achtundneunzigsten Geburtstag gestorbenen
Curt Siodmak, Produzent war Moriz Seeler. Namen, die der Cineast
heute mit Ehrfurcht liest. Damals waren das unbekannte Jungfilmer,
alle unter dreißig. Die Musik arrangierte und komponierte
Otto Stenzel als ein vornehmlich durch Werke und Melodien tschechischer
Komponisten inspiriertes Potpourri. Von dieser Filmmusik sind heute
nur noch Hinweise in zeitgenössischen Zeitungskritiken und
anderen Quellen vorhanden. Wurde der Film in den letzten Jahren
bei einem Stumm- oder Kurzfilmfestival gespielt, dann bot er meist
einem örtlichen Pianisten oder einer Jazzband willkommene Gelegenheit,
die Szenen mehr oder weniger einfühlsam mit Gebrauchsmusik
zu untermalen.
Die Version des Films Menschen am Sonntag, die bis
vor kurzem weltweit zur Aufführung kam, war freilich nicht
die Originalfassung, sondern eine wesentlich kürzere Kopie
mit holländischen Zwischentiteln. In gemeinsamer Produktion
von KirchMedia und ZDF/Arte bot sich für den Experten Martin
Koerber die Gelegenheit zur aufwendigen Restaurierung des Filmes.
Was Koerber nicht rekonstruieren konnte, war Stenzels Originalmusik.
Die in Taschkent gebürtige und heute in Australien lebende
Komponistin Elena Kats-Chernin, die auf eine langjährige Erfahrung
mit Theater-, Film- und Ballettmusiken zurückgreifen kann,
erhielt den Kompositionsauftrag für eine neue Filmmusik zu
Menschen am Sonntag. Anfang Juli erlebte ihre neue Musik
für ein Solistenensemble ihre Uraufführung im kleinen
Stadttheater in Karlsbad übrigens in Anwesenheit der
Hauptdarstellerin des Films, Brigitte Borchert, die zur Zeit der
Filmpremiere 1931 zwanzig Jahre alt war. Überraschend an der
Musik der Lachenmann-Schülerin ist das klare Bekenntnis zur
Tonalität, zu einer Art neuer Einfachheit, wie sie vielleicht
im Vitalismus der 20er- und 30er-Jahre eine Entsprechung findet.
Die hauptsächlich in Dur-Tonarten gehaltene Musik bleibt im
Konkreten, vermeidet aber jeden Anflug von Kaffeehausmusik. Sie
ist raffiniert instrumentiert und dabei stets rhythmisch
anspruchsvoll. Die Aufführung leitete Frank Strobel, der an
diesem Tag gegen ein Vorführgerät anspielen musste, das
23,5 Bilder pro Minute anstelle der üblichen 22 Bilder pro
Minute abspielte. Diese kleine technische Unvollkommenheit übertrug
sich aber nicht merklich auf die gelungene musikalische Darbietung.
Die Leichtigkeit des Films, sein Tempo, fand eine Entsprechung in
Kats-Chernins musikalischem Gestus. Auch wenn der Film keinen Höhepunkt
im dramatischen Sinne kennt, so ist doch die berühmte Grammophon-Szene
eine echte Zuspitzung: hier verstärkte die Komponistin mit
einer Art slawischen Tanz die Emotionen der Protagonisten, ohne
ein einziges Mal in Klischees oder gar ins Schlager-Genre zu verfallen.