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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 48
49. Jahrgang | November
Nachschlag
Nachschlag
Entwicklungsland Deutschland
Staunen löste es auf jeden Fall aus: das Nationale Kinderorchester
Venezuela bei seiner Tournee durch Deutschland. Da spielte ein riesiges
Orchester mit 214 Instrumentalisten so orchestertechnisch vertrackt
heikle Musik wie etwa das Finale von Tschaikowskys 4. Sinfonie
und man hielt dem angespannten Tempo virtuos und sauber stand. Doch
nicht das Akrobatische ist es, was faszinierte und zum Denken anregte,
auch nicht die Masse der versammelten Musiker.
Denn
schnell wurde der Blick zurück gelenkt auf kulturelle Debatten
hier zu Lande; und hier beginnt das Nachdenkliche. Venezuela ist
ein Land, in dem trotz reicher Ölvorkommen ein Drittel der
Bevölkerung den Sprung über die Armutsgrenze nicht schafft.
Wie aber sähe es in der deutschen Orchesterlandschaft aus,
wenn hier ähnliche ökonomische Engpässe herrschten?
Denn jede finanzielle Knappheit wird hier doch immer als Vorwand
genommen, sofort die Streichliste hoch zu hängen, um dem scheinbar
Überflüssigen, also der Kultur an den Kragen zu gehen.
Uns redet man ein, dass wir nur mit einem Orchester weniger gleich
viel zu essen haben. So einfach macht man es sich hier, ohne viel
zu fragen, ob dieser einfache Weg der richtige ist. Und der Schwachsinn
wird auch noch geglaubt.
Venezuela geht einen anderen Weg, und es lohnt durchaus, davon
zu lernen. Armut und Reichtum sind ja längst nicht nur am finanziellen
Umfeld allein zu messen. Und den Kindern dort wird, auch wenn man
böswillig ein Ablenkungsmanöver dahinter erblicken könnte,
in ihrer Armut ein Stück anderen Reichtums vermittelt und zuteil.
Denn der Mensch lebt als ganzer, und Bereicherung lässt sich
nicht erzielen, indem man eine Seite kappt und die andere bis zum
Überdruss abfüllt.
Von Venezuela lernen
Ja es könnte sogar sein, dass das Beschneiden der einen, hier
der kulturellen Seite, schleichend kontinuierlich dazu führt,
dass es auch auf anderen Gebieten zu Abtragsmechanismen führt.
Wird aber, und in diese Richtung denkt das venezolanische Modell,
Leben kulturell wach gehalten, dann wachsen daraus neue Regelmechanismen
hervor, die der weiteren Reproduktion neue Kräfte zuführen.
Man beklagt bei uns zur Zeit, dass in Deutschland das rechtsradikale
Potenzial ständig zunimmt. Und die, die an oberer Stelle darüber
jammern, sind oft auch die ersten, die den Rotstift an kulturelle
Einrichtungen anlegen. Ganz kurzsichtig plädieren sie, dabei
Recht zu haben.
Denn selbstverständlich ist kein Jugendlicher, der mit rechtsextremen
Parolen herum randaliert, nicht über die Mitgliedschaft in
einem Jugendorchester (wofür er wohl nicht einmal ein müdes
Lächeln hätte) zu besänftigen. Dieses Argument scheint
auf den ersten Blick plausibel, aber es ist blind. Die gesellschaftlichen
Mechanismen sind ganz andere. Vielleicht wären sie so zu beschreiben,
dass in einem Land, das so leichtfertig mit der Kultur umgeht, das
ohne weiteres die Mittel kürzt, Orchester streicht, Theater
schließt, mit dieser Tat, mit der dahinter stehenden Gesellschaftsideologie
selbst schon die Basis schafft für einen dumm-rüderen
Umgang mit allen Umständen. Denn so, wie hier oft mit Kultur
umgegangen wird, kann man das nur als dumm-rüde bezeichnen.
Und der Nährboden für neofaschistisches Potenzial ist
eben auch dieses fatale Paar aus Dummheit und Rüdheit oder
Gewaltbereitschaft. Das vorgelebte Wertesystem wird auf unterer
Ebene reproduziert und bringt dort seine wirkliche Brutalität
zum Aufscheinen.
So ist das venezolanische Modell nicht nur ein Mittel, Kinder
von der Straße zu holen, die aus Armut in Gefahr geraten,
zu asozialen (das heißt: nicht in die Gesellschaft integrierbaren)
Elementen zu werden, es hat weit mehr an Zusammenhang von Kultur
und gesellschaftlichem Zusammenleben begriffen. Wer so verantwortlich
mit Kultur, mit Musik und mit allen damit zusammenhängenden
Implikationen umgeht (zum Beispiel im Orchester: soziale Einordnung,
gegenseitige Unterstützung, der Teil und das Ganze und so weiter),
der gibt auch Beispiele für andere Umgangsformen. Zumindest
auf diesem Gebiet ist Venezuela ein reiches, Deutschland aber ein
Entwicklungsland.