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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 30
49. Jahrgang | November
Pädagogik
Expeditionen zum modernen Musiktheater
HipHop, Opera buffa, Mitspieloper: fünf Jahre Junge Oper
am Stuttgarter Haus
Während
in Berlin Kulturpolitiker, Intendanten und Dirigenten vergeblich
über Qualität und Kosten einer Hauptstadtkultur diskutieren
und spekulieren, hat Deutschland längst eine heimliche Opernhauptstadt:
Unter der Doppelintendanz von Klaus Zehelein und Pamela Rosenberg
erlebte die Staatsoper Stuttgart einen Aufschwung, der an ihre große
Zeit in den fünfziger Jahren erinnert, wo sie schon einmal
als Pilgerstädte von Opernfreunden galt. Zum dritten Mal wählten
Kritiker der Zeitschrift Opernwelt das Stuttgarter Haus
zur besten Oper des Jahres. Weiter zeichnete die Jury die Stuttgarter
Götterdämmerung (Aufführung des
Jahres) inklusive ihres Regisseurs Peter Konwitschny (Regisseur
des Jahres) und der Brünnhilde-Sopranistin (Sängerin
des Jahres) aus. Ebenfalls ehrten die Kritiker den Staatsopernchor
Stuttgart (Bester Opernchor des Jahres).
Wie populär Oper in Stuttgart ist, kann man auch an einem
weiteren Projekt von Zehelein festmachen, das jedoch noch nicht
so stark ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist:
Seit fünf Jahren existiert dort die Junge Oper Stuttgart. Jugend-
und Schultheaterprojekte hatten in Stuttgart freilich schon vor
Zehelein Tradition, doch dieser baute von Beginn seiner Intendanz
im Jahre 1991 diesen Bereich der Jugendarbeit kontinuierlich aus.
Es begann mit mehreren großen Projekten in Kooperation mit
allgemein bildenden Schulen der Stadt und der Region. 1995 schuf
die Opernintendanz aus Mitteln des Förderkreises der Gesellschaft
der Freunde der Württembergischen Staatstheater zusätzlich
die Stelle eines Musiktheaterpädagogen. In dieser Funktion
entwickelte Markus Kosuch das Projekt Erlebnisraum Oper, basierend
auf professionellen Produktionen mit jungen Künstlern einerseits
und auf der Arbeit mit Schülern aus den Schulen aus Stadt und
Umland andererseits. Heute hat die Junge Oper drei feste Mitarbeiter,
einen Etat von etwa einer halben Million Mark pro Spielzeit und
ist mit seinen anspruchsvollen Low-Budget-Produktionen ein Publikumsrenner.
Pedagogicals nicht erwünscht
Die Bilanz der Arbeit seit 1995 kann sich sehen lassen. Fünf
Produktionen mit beinahe 100 Vorstellungen wurden realisiert: Der
gestiefelte Kater von César A. Cui, die Weiße
Rose von Udo Zimmermann, Das Kind und die Zauberdinge
von Maurice Ravel, Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee
von Violeta Dinescu, die Uraufführung der HipHop-Oper P.A.G.S.
von Andreas Breitscheid und Manfred Weiß. Im Juni 2000 hatte
The Jumping Frog oder der Held von Calaveras von Lukas
Foss nach einem Text von Mark Twain Premiere. Während früher
ein fester Regisseur fürs Programm zuständig war, sucht
heute das Team der Jungen Oper um Markus Kosuch die Stücke
aus und legt sie der Intendanz vor. Die engagiert dann die entsprechenden
Gastregisseure. Künstlerische Aspekte stehen dabei vor pädagogischen,
denn Kosuch legt keinen Wert darauf, Pedagogicals zu machen: Wo
dann am Schluss alle in die Hände klatschen und singen ,Geh
nicht bei Rot über die Straße. Die meisten
Stücke für Kinder, die heute auf dem Markt sind, sind
Musicals. Die will die Junge Oper aber bewusst nicht inszenieren.
Kosuch: Ich finde es schade, wenn die Musikgeschichte in der
Dur-Moll-Harmonik aufhört.
Das Besondere an der Jungen Oper Stuttgart ist weniger das Vorhandensein
eines Spezialprogramms für Kinder und Jugendliche, sondern
die Art wie die Produktionen realisiert werden. Da sind zunächst
die Solisten: Junge Künstler, die oft schon im ersten Engagement
sind und hier eine weitere echte Chance bekommen sich für die
großen Bühnen zu profilieren. Dies trifft auch auf die
Instrumentalisten des Kammerorchesters zu. Die musikalische Leitung
übernehmen zumeist Kapellmeister der Staatsoper wie Willem
M. Wentzel oder Richard Wien. Diese Profis behalten auch bei den
turbulentesten Aktionen der Opern-Eleven den Überblick
und sorgen für professionelles Niveau. Dann der Opernchor:
Dessen Mitglieder werden für jede Produktion neu gecastet.
In Betracht kommen hier Schüler aus Musik-Leistungskursen,
engagierte Laien, zukünftige Gesangsstudenten. Für das
HipHop-Stück P.A.G.S. suchte man sich die Darsteller
auch außerschulisch aus der HipHop-Szene.
Erlebnisraum Oper
Damit nicht genug: Für Interessierte aus allen Schularten
(die Betonung liegt hier auf alle) bietet die Junge Oper Hospitanzen
und Schnupperpraktika. Die gibt es in der Kostümschneiderei,
der Maske, in der Technik oder bei der Beleuchtung. Sehr begehrt
sind Regieassistenzen. Auch hier müssen sich Interessenten
für jede Produktion bewerben. Und nicht zuletzt werden nicht
nur Schüler zum klassenweisen Besuch geladen, sondern die Junge
Oper bietet unter dem Titel Erlebnisraum Oper ein durchdachtes
und individuelles Kooperationskonzept von Oper und Schule an, das
von der traditionellen Besichtigung mit doppelstündiger Vor-
und Nachbereitung bis zu den anspruchsvollsten fächerübergreifenden
Projekten reicht. In den fünf Jahren Junge Oper entstanden
so zehn musiktheaterpädgogische Publikationen mit umfangreichen
Materialien, die entweder die Oper selbst oder der Klett-Verlag
publiziert.
Vielfältige Vernetzungen haben sich nicht nur in der Region
entwickelt, wo die Junge Oper an der Staatsoper Stuttgart eng mit
Oberschulämtern, Musikhochschulen, Pädagogischen Hochschulen
sowie diversen weiteren Institutionen kooperiert. Im November 1997
gründeten die Opernhäuser Covent Garden, Monet und Stuttgart
das internationale Netzwerk RESEO, in dem heute 20 Häuser von
Barcelona bis Helsinki vertreten sind. (Informationen im Internet:
www.reseo.org).
Ende Juni hatte The Jumping Frog oder der Held von Calaveras
im Kammertheater des Staatstheaters Premiere eine Komische
Oper in zwei Akten von Lukas Foss nach einer Erzählung von
Mark Twain. Die skurille Fabel von Twain, bei der es um die absonderliche
Wettleidenschaft eines Springfroschbesitzers im Wilden Westen geht,
fasste Foss in eine Musik für Kammerorchester ganz im Stil
der opera buffa. Auch heute, 33 Jahre nach der deutschen Uraufführung,
wirkt seine klassizistische Spielerei nicht anbiedernd oder gefällig
sondern frisch und unterhaltsam. Abgesehen von zahlreichen musikalischen
Implikationen, die die opera buffa für den Musikunterricht
bietet, knüpfen Unterrichtsmaterialien, die Kosuch und seine
Mitarbeiter entwickelt haben, an die Biografie von Mark Twain an.
Im fächerübergreifenden Unterricht setzen sich die Schüler
mit Twains Europareise auseinander und können feststellen,
dass Tom Sawyers und Huckleberry Finns große Mississippi-Floßfahrt
auf eine Floßfahrt Mark Twains auf dem lieblichen Neckartal
zwischen Heilbronn und Heidelberg zurückgeht.
In
der Spielzeit 2000/2001 wird das Werk Expedition zur Erde
(siehe unser Szenenfoto) von Bernhard König, einem heute 33-jährigen
Kagel-Schüler, aufgeführt. Das Stück, das Elemente
des Mitspieltheaters auf intelligente Weise für die Oper umsetzt,
wurde vor fünf Jahren in Potsdam uraufgeführt. Die Premiere
ist am 12. November; weitere Vorstellungen gibt es bis zum 16. Dezember
2000.