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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 41
49. Jahrgang | November
Jazz,
Rock, Pop
Komplexe Genealogien
Es gibt ein Leben nach Hüsker Dü: Grant Harts Good
News For Modern Man
Hüsker Dü war das missing link zwischen Velvet
Underground und Nirvana: Die Post-Punk-Band verband den düster-psychedelischen
Sixties-Underground mit dem alternativen Seattle-Sound
der frühen 90er-Jahre. Für ein paar Jahre waren Bob Mould
und Grant Hart die SPEX-Hausheiligen: Die Musiker, auf die sich
alle einigen konnten, was immer sie ansonsten für Vorlieben
haben mochten. Zen Arcade, das Hüsker-Dü-Meisterwerk
aus den Mittachtzigern, hat einen festen Platz in der hall
of fame diverser All-Time-Rock- und Pop-Charts.
Nach
dem Hüsker-Dü-Split gründeten Mould und Hart eigene
Bands: Sugar und Nova Mob. Die beiden hatten ein anderes Problem
als Eddie Vedder: Sie mussten nicht das Ende eines klar definierten
Genres überleben, denn alle Wege führten nach Hüsker
Dü, wohl aber das einer Band, auf die sich alle, parasitär
und vampirisch, so sehr bezogen, dass die Hüsker-Dü-Musiker
als leere Hüllen am Weg zurückblieben. Eddie Vedder verfügte
über eine funktionierende Band, aber das Genre, für das
sie stand, war tot. Bob Mould und Grant Hart hatten Optionen für
einige Künstler-Karrieren, aber nach dem Ende von Hüsker
Dü waren sie plötzlich marginalisiert, nur noch eine Sache
für Hardcore-Fans und Spezialisten. Gerade Grant Hart, von
der Schlagzeug-Maschine im Hintergrund zum Guitarrero-Frontman mutiert,
schrieb Hits am laufenden Band die nur keine wurden. Privates
Pech kam hinzu: Ein schwerer Autounfall und unzuverlässige
Musiker, die die Band-Baisse zum Anlass nahmen, einfach nicht mehr
zu verabredeten Gigs zu erscheinen. Nur im Rückblick fügt
sich alles: per aspera ad astra. Vier Jahre war von Grant Hart überhaupt
nichts zu hören. Er feilte an seinen Songs, als gelte es, den
Ulysses neu zu erfinden. Er ging ins Studio und spielte
alle Instrumente selbst: Die Band, die auf Good News For Modern
Man so fantastisch harmoniert, besteht aus Grant Hart und
seinen Overdub-Klons.
Good News For Modern Man demonstriert, wie komplex
und wie kompliziert! Genealogien sind. Was zu Hüsker-Dü-Zeiten
fast unhörbar in den Drum-Sets verhallte, wird jetzt offensichtlich:
Dass nämlich der Songwriter Grant Hart weniger aus Andy Warhols
Factory kommt und auch nicht die doors of perception
durchschreiten möchte, sondern sich eher an den nur scheinbar
taghellen, in Wahrheit aber zutiefst melancholischen melody
makers der Sixties orientiert: An den Hollies und vor allem
an den Beach Boys bekanntlich hasste Surf-Sound-Erfinder
Brian Wilson nichts so sehr wie Strände.
Der Opener Think It Over Now ist ein aufregendes Brian-Wilson-Double
aus dem Jahr 2000: so fröhlich, dass es einen frösteln
lässt. Grant Harts unbezweifelbarer Vitalismus ist nichts für
die Fun-Society: Die düsteren Ränder ergreifen nicht selten
das Herz der Songs und die Lyrics sind voller Fallen.
Das kommt daher, dass Grant Hart die Realität, die er beschreibt,
nicht so lange ausdünnt, bis sie den Kitsch-, Trost- oder Heilsbedürfnissen
leichtsinniger Lebenskonsumenten entspricht. Seine Ästhetik
des Augenblicks geht über das Verweile doch, du bist
so schön hinaus: never wish away a moment.
Und: Was geschehen ist, ist geschehen. Du kannst dein Dasein nicht
nachträglich flicken und schönen. Du kannst es auch nicht
mit einem Mausklick löschen und von vorn beginnen. Alles, was
geschieht, hat einen Zeit-Index. Das macht es dramatisch. So wird
Grant Hart, der no future-Apostel des Post-Punk zum
alteuropäischen Humanisten, für den Existenz und Erinnerung
ein unzertrennliches Paar bilden. Programmatisch in dem Song Run
Run Run to the Centre Pompidou, der surrealistisch-zersplitterte
und autobiografisch grundierte Reminiszenzen einer verzweifelten
Tour de Force durch die verstopfte Pariser Innenstadt zum Tempel
der Moderne bietet.