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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 25
49. Jahrgang | November
Bücher
Der Leser als aufmerksamer Mitarbeiter
De la Motte lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vielgestaltigkeit
der musikalischen Form
Diether
de la Motte: Musik Formen. Phantasie, Einfall, Originalität
ins Ohr springend, für Aufmerksame, hineinversteckt.
Augsburg: Wißner 1999. [Forum Musikpädagogik Bd. 38],
496 Seiten. Paperback. 69 Mark [Wißner-Lehrbuch Bd. 2]
Braucht die Musikwelt eine weitere Formenlehre, sind in den Standardwerken
nicht alle wichtigen Aspekte des Themas hinreichend abgehandelt?
Der von Diether de la Motte gewählte Titel lässt allemal
aufhorchen. Da ist im Zusammenhang mit einer Formenlehre
von der man gemeinhin eine eher trockene analytische Aufarbeitung
wichtiger und längst etablierter Werke der Musikgeschichte
erwartet plötzlich von Originalität
und von Phantasie die Rede, die ins Ohr springend,
für Aufmerksame hineinversteckt wurde. Das klingt kein
bisschen trocken und auch kein bisschen langweilig, sondern, ganz
im Gegenteil, spannend. Der Autor möchte den Blick des Lesers
in Bezug auf die Formfülle ausweiten und er empfiehlt seinen
Lesern etwas, das er den Schreibweg nennt und den er
auch selbst beim Verfassen des Werkes gegangen ist. Der besteht
aus dem aktiven Ausprobieren und Experimentieren mit Bleistift und
Radiergummi, indem man zum Beispiel anhand eines Liedtextes eine
eigene Formerwartung entwirft, bevor man sich die Lösung
des Komponisten vornimmt.
Für das Thema Choral beschränkt sich de la Motte auf
die Kompositionen nur eines einzigen Tondichters (der Gregorianische
Choral bleibt aus Platzgründen sinnvollerweise außen
vor): Am Beispiel Johann Crügers untersucht er die vielfältigen
Beziehungen der Gattung vor allem nach dem Verhältnis zwischen
Text und Musik. Er geht dabei nach dem Prinzip vor, die eigene,
von der Textaussage motivierte Formerwartung mit den tatsächlichen
Kunstgriffen des jeweiligen Chorals zu vergleichen.
In der Darstellung hat man sich um große Anschaulichkeit
bemüht, viele hilfreiche Notenbeispiele ausgesucht und den
Text durch Tabellen und schematische Zeichnungen aufgelockert und
vertieft. De la Motte gehört dankenswerter Weise zu den Autoren,
die die Fähigkeit besitzen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren
ohne ausschweifend zu werden oder durch zu große Knappheit
Klarheit einzubüßen. Das Buch bietet keine puren Fakten,
die sich zum schnellen Auswendiglernen etwa in der Prüfungsvorbereitung
nutzen ließen. Vielmehr setzt es auf die aufmerksame Mitarbeit
des Lesers. De la Motte möchte seine Leser auch nicht auf allgemein
gültige Regeln in der Formbildung einschwören. Er lenkt
den Blick auf die Vielgestaltigkeit in musikalischer Form. Daher
geht es beispielsweise beim Sonatenhauptsatz nicht um Beethovens
Klaviersonaten, die ja im Allgemeinen beinahe als Prototyp des Sonatensatzes
gehandelt werden. Die Beschränkung auf Klaviersonaten von Mozart
und Haydn aus dem Zeitraum von 17711780 fördert eine
unerwartete, schier unendliche Vielfalt an Gestaltungsprinzipien
und Freiheiten zu Tage, die den beiden Wiener Klassikern ganz selbstverständlich
zur Verfügung gestanden haben. Diether de la Motte will mit
Musik Formen keine Formenlehre neu schreiben. Die bekannten
Standardwerke wie etwa von Hugo Leichtentritt, Richard Stöhr,
Hermann Erpf und anderen können getrost im Regal stehen bleiben,
ohne an Wert oder Gültigkeit zu verlieren. Vielmehr kann die
Neuerscheinung zu einem vertieften, detailorientierteren und aktiveren
Verständnis für formale Zusammenhänge beitragen.
Die Beispiele spiegeln de la Mottes eigenen, manchmal unkonventionellen
Zugang zur Musik auch und gerade über weniger bekannte Werke
wider. Im Abschnitt Minimal Music steht denn auch der
altehrwürdige Josquin neben György Ligeti.
Die Publikation, die bis 1996 geschaffene Klangkunst berücksichtigt,
arbeitet mit den interessanten, häufig zu wenig beachteten
Aspekten musikalischer Form. Deshalb braucht die Musikwelt eine
Formenlehre wie diese. Nicht um die bisherigen Standardwerke zu
ersetzen, sondern um sie sinnvoll zu ergänzen.