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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 26
49. Jahrgang | November
Bücher
Von der Musik als der deutschesten Kunst
Musikwissenschaft und die Politik in den Zeiten der Weimarer Republik
und unter Hitler
Pamela
M. Potter: Die deutscheste der Künste. Musikwissenschaft und
Gesellschaft von der Weimarer Republik bis zum Ende des Dritten
Reiches, Klett-Cotta, Stuttgart 2000, 416 S., 68 Mark
E s ist bezeichnend, dass erst jetzt, gut 50 Jahre nach dem Ende
des Dritten Reiches, eine wissenschaftlich profunde Gesamtdarstellung
der Musikwissenschaft in den Epochen der Weimarer Republik und des
Nationalsozialismus vorliegt. Noch bedeutungsvoller aber scheint
es, dass sie aus amerikanischer Feder stammt. Fred K. Prieberg stellte
seinem 1982 erstmals erschienenen Buch Musik im NS-Staat
die Frage Joseph Wulfs voran, warum gerade ein polnischer
Jude als Außenseiter nach Deutschland kommen musste, um über
Musik im Dritten Reich zu schreiben und warum dies bis
heute kein deutscher Fachmann getan hat. (Priebergs Buch übrigens
wurde dankenswerterweise kürzlich vom Kölner Dittrich-Verlag
wieder aufgelegt.) Somit nimmt es nicht wunder, dass ebenso die
zuletzt erschienenen Publikationen zu dem Thema aus nationaler Distanz
heraus geschrieben wurden, so Michael H. Katers The Twisted
Muse (Europa-Verlag, 1998) und Sonderstab Musik
von Wilhelm de Vries (Dittrich-Verlag, 1998). Auch andere Disziplinen
scheinen mit dieser Problematik zu kämpfen; die Überschrift
zu einer Besprechung des Buches Versäumte Fragen. Deutsche
Historiker im Schatten des Nationalsozialismus spricht Bände:
Schweigen im Konsens. Erst jetzt fragen deutsche Historiker
nach der Rolle ihres Faches im Dritten Reich (Die
Zeit, 27.7. 2000). Gewiss, es wirft einen dunklen Schatten auf die
deutschen Musikwissenschaftler der Nachkriegszeit, dass sie eine
umfassende Studie über das Thema bislang nicht verfass-ten.
Andererseits schrieb Potter eine überaus lobenswerte Arbeit,
die neben ihrer Gründlichkeit auch durch die Sachlichkeit und
Nüchternheit des Tonfalls besticht, dessen ein deutscher Schreiber
vielleicht nicht fähig gewesen wäre. Die Autorin widerlegt
die Auffassung, dass 1933 ein radikaler Bruch vollzogen worden sei:
Die Musikwissenschaft (konnte) nicht entnazifiziert werden,
weil sie im Dritten Reich an sich nicht ,nazifiziert worden
war, sondern einen Weg weiterverfolgte, den sie bereits vor 1933
eingeschlagen hatte. Diesen Weg konnte sie im Dritten Reich fortsetzen
und von der staatlichen Unterstützung profitieren, die sie
ihrer Befähigung, nationalsozialis-tischen Zielen zu dienen,
verdankte. Dieser Weg nahm weder spontan nach Hitlers Aufstieg seinen
Anfang, noch wurde er nach seinem Fall kompromisslos verlassen,
sondern setzte sich nach 1945 in irgendeiner Form fort. Vielleicht
wurzelt gerade hierin die Scheu der deutschen Musikwissenschaftler,
sich mit der jüngeren Vergangenheit ihrer Disziplin auseinander
zu setzen.
Die Musikpolitik der Nationalsozialisten lief darauf hinaus, Organisationen
zu unterstützen, deren Ziele mit dem kulturpolitischen Programm
übereinstimmten. Folglich suchten sich die Institutionen durch
interne Gleichschaltungen anzupassen; das Aufblühen
der Rassenkunde, das schon krampfhafte Bemühen, typisch deutsche
Wesensmerkmale bei Komponisten aufzuspüren (die Entanglisierung
Händels erscheint in diesem Zusammenhang als typisch), waren
notwendige Begleiterscheinungen.
Nur zwei Juden, Curt Sachs und Erich von Hornbostel, hatten in
der Weimarer Zeit Ordinarien inne. Selbst die Habilitation des Juden
Alfred Einstein, der einer der vehementesten Verfechter des deutschen
Nationalbewusstseins in der Musik war und als der kompetenteste
Experte auf den Gebieten des italienischen Madrigals und der Werke
Mozarts galt, wurde systematisch verhindert. Nach der Machtergreifung
Hitlers verließ eine große Anzahl von nicht-arischen
Musikwissenschaftlern das Land. Dadurch erlitt die Musikwissenschaft
trotz der quantitativen Bereicherung, die sie nach 1933 erfuhr,
einen erheblichen Qualitätseinbruch. Proteststimmen gegen das
Nazi-Regime wurden unter den Musikwissenschaftlern erschreckend
selten laut. Einer der wenigen, die sich auch öffentlich gegen
die Rassenpolitik aussprachen, war Johannes Wolf. Des weiteren enthüllt
Potter die überraschende Tatsache, dass das Weiße-Rose-Mitglied
Kurt Huber, dem der Mythos des Wider-ständlers der ersten Stunde
anhaftet, zunächst Parteimitglied war und erst 1942, als sich
schon der Verlauf des Krieges abzeichnete, in die Opposition wechselte.
In ihrem letzten Kapitel geht die Autorin auf die Entnazifizierung
ein und zieht erschreckende Bilanzen. Das Verfahren wurde begleitet
von Lügen, Entstellungen, Verschweigen und Nachlässigkeiten.
Die Opfer des Regimes wurden nicht wieder eingestellt, während
viele Wissenschaftler der NS-Zeit auch nach dem Krieg Karriere machten.
Bekannte Namen tauchen auf, unter anderem Friedrich Blume, der bis
in die 60er-Jahre He-rausgeber des wohl ambitioniertesten musikwissenschaftlichen
Projektes nach dem zweiten Weltkriegs war, der MGG. (Diese enthält
in der Ausgabe von 1961 noch braune Spuren: In der Bibliografie
zum Kapitel Musikwissenschaft befindet sich ein Abschnitt zur Rassen-
und Volkstumskunde, der unter anderem einschlägige Literatur
aus der NS-Zeit auflistet.) Leider unterlässt Potter es, die
Nachkriegskarriere Herbert Gerigks zu enthüllen, der neben
Hans Joachim Moser in ihrem Buch die herausragende dämonische
Gestalt ist. Gerigk, der Leiter des Sonderstabs Musik,
gab zusammen mit Theophil Stengel das Lexikon der Juden in
der Musik heraus.
Alles in allem offenbart die nationalsozialistische Geschichte
den immanenten politischen Charakter der Musikwissenschaft und folglich
ihre Anfälligkeit für die Gefahr, durch politische Kräfte
ausgenutzt zu werden, zumal und dies betrifft gewiss auch
die anderen Geisteswissenschaften in Zeiten des Übergangs.
Zu Recht mahnt die Autorin in ihrem Fazit: Die Situation der
Musikwissenschaft im Dritten Reich liefert ein frappierendes Beispiel
dafür, wie die unkritische Akzeptanz theoretischer Trends und
Schlagwörter sich zu verselbstständigen und zerstörerische
Kräfte freizusetzen vermag.