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nmz-archiv
nmz 2000/11 | Seite 6
49. Jahrgang | November
Musikwirtschaft
Anregend und umstritten Dopingmittel MP3
Immer mehr bekannte Bands entdecken MP3s, Napster & Co. für
sich
Keine Musikvideos, kaum Interviews, nur eine Hand voll Konzerte:
Radiohead haben ihrer Plattenfirma die Promotion ihres neuen
Albums nicht gerade einfach gemacht. Trotzdem schaffte die Kid
A betitelte Platte Anfang Oktober auf Anhieb den Sprung an
die Spitze der US-Albumcharts. Für Radioheads Label Columbia
die erste Nummer eins seit mehr als zwei Jahren. Geholfen hat der
Firma dabei das Internet.
Columbia
entschied sich dafür, das Album massiv über Audiostreams
zu promoten. Auf zahlreichen Sites ließ sich Kid A
bereits drei Wochen vor dem Veröffentlichungstermin in kompletter
Länge anhören. Außerdem kooperierte Columbia mit
den Anbietern Aimster und Angrycoffee, beides umstrittene
Konkurrenten zur Musikertauschbörse Napster. Zwar gab
es auf den Sites keine Radiohead-MP3s, doch die Fans dürften
das Signal verstanden haben: Statt wie von Metallica fürs
MP3-Tauschen beschimpft zu werden, wurden sie hier als Konsumenten
ernst genommen.
Majorlabel nutzt Konkurrenz
Mit dieser Kampagne arbeitet erstmals ein großes Plattenlabel
direkt mit rechtlich umstrittenen Musik-Tauschbörsen zusammen.
Zwar gab es auch vorher schon Musiker, die das Netz für unkonventionelle
Werbemethoden nutzten. Doch meist geschah dies gegen den erklärten
Willen ihrer Plattenfirmen. Mitte September kündigten die etwa
die Pop-Punks der Band Offspring an, ihr komplettes Album
noch vor dem offiziellen Release im Web zum Download anzubieten.
Nach Intervention ihrer Plattenfirma Sony mussten sie sich
jedoch darauf beschränken, ihre aktuelle Single ins Web zu
stellen. Gleichzeitig erklärte Offspring-Sänger Dexter
Gordon trotzig, nun müssten sich die Fans die Platte eben
mit Napster besorgen. Damit hat die Band sich immerhin ein Rebellenimage
aufgebaut, das ihre braven Songs allein niemals erreicht hätten.
Jenseits der Plattenfirmen
Neben solchen Imageaspekten sehen viele bekannte Musiker in MP3s
mittlerweile auch eine ernsthafte Chance, ohne Unterstützung
der großen Plattenfirmen Gehör zu finden. Besonders engagiert
wird dies von der Hole-Sängerin Courtney Love propagiert,
die im Juni ihren Bruch mit der traditionellen Musikwirtschaft verkündete.
Damals erklärte sie in einer Aufsehen erregenden Rede, die
wahren Musikpiraten seien nicht Napster & Co., sondern die großen
Plattenfirmen. Gleichzeitig veröffentlichte sie auf ihrer Website
mehr als 80 Songs im MP3-Format. Kürzlich hat sie ihre Pläne
für eine Zeit ohne große Plattenfirma im Rücken
präzisiert: Demnach wird es im Netz einen Hole-Fanclub auf
Abobasis geben. Mitglieder können auf Songs, Chats und andere
exklusive Inhalte Zugriff erhalten.
Eine Chance für die Nische
Wenn Musiker ihre eigenen Songs im Netz verschenken, dann steckt
dahinter oft auch die Angst, dass die eigene musikalische Nische
im Zeitalter der Britney-Spears-Verschnitte durch das Aufmerksamkeitsraster
der Medien fällt. Matt Johnson alias The The hat zum
Beispiel lange Zeit Napster und den MP3-Boom hart kritisiert. Doch
dann entschloss er sich dazu, sein letztes Album Song für Song
komplett auf seiner Website zu verschenken.
Johnson beklagte sich darüber, dass seine ehemalige Plattenfirma
nicht mehr genug Promotion für kleinere Bands betreibe. Durch
eine Reihe von Übernahmen und Fusionen fand sich Johnson plötzlich
im Mischkonzern Vivendi wieder, der auch Universal-Musiker
wie Aqua, Eminem und No Doubt vermarktet. Vom
Netz erhofft er sich nun einen neuen Schub für Nischenprojekte
wie The The: Das Publikum wird direkt mit den Musikern Geschäfte
machen, und der Zwischenhändler wird an Bedeutung verlieren.
Eine Prognose, der sich nicht jeder anschließen mag. Wie
die Radiohead-Kampagne gezeigt hat, können auch Plattenfirmen
vom Netz profitieren, wenn sie ihre Totalopposition aufgeben. Für
Brad Cecil vom Musik-Startup Buystream.com ist es besonders
wichtig, dass Fans hier direkt in die Promotion mit einbezogen werden:
Das beste Marketing war schon immer Mundpropaganda. Mit E-Mail,
Chat-Rooms und Napster haben wir heute Mundpropaganda auf Steroiden.