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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 35
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Oper
& Konzert
Das schwer durchschaubare Spiel der Musik mit der Zeit
Ein Musik-der-Zeit-Projekt des Westdeutschen Rundfunks
Köln mit mehreren Uraufführungen
Musik ereignet sich in der Zeit. Selbst ein einziger Ton, einmal
angeschlagen, verbraucht eine, wenn vielleicht auch nur in Zehntelsekunden
messbare Zeit. Auch die Imaginationen, Zeit in Raum zu überführen,
wie es Gurnemanz im Parsifal im Gespräch dem tumben
Thoren vorzugaukeln versucht, sind nichts anderes als verzweifelte
Anstrengungen, die Zeit anzuhalten: der Raum gleichsam als eine
Art Polder, in dem sich der reißende Strom (der Zeit) vorübergehend
beruhigt sammelt.
Was die Musik vermag, ist: den Stillstand der Zeit zu suggerieren.
Das subjektive Empfinden des Verweile doch... im Zuhörenden
zu evozieren. Das barocke Adagio funktioniert in diesem
Sinne. Eine andere Möglichkeit der Musik, Zeit zu bannen, besteht
in der straff komponierten Form: Form überspielt hierbei die
Zeit, degradiert letztere quasi für kurze Dauer
zur Nebensache. Eine weitere Chance der Musik im steten Konflikt
mit der Zeit bietet sich an: Wenn Musik den Ablauf der Zeit sozusagen
unterläuft, sich auf die Zeit setzt
und sich scheinbar bis in die Unendlichkeit forttragen lässt,
wobei sie, mit der ihr eigenen Raffinesse, vorzutäuschen versteht,
dass sie es ist, die den Ablauf bestimmt, nicht die konkurrierende
Zeit.
Auf diese Weise haben es viele moderne Komponisten unternommen,
abgelöst von dramatischen oder psychologisierenden Inhalten
und Verknüpfungen, das Phänomen der Zeit quasi
abstrakt zu erfassen, es sozusagen selbst, ohne narrative
Ummäntelungen, zu komponieren, sei es als zeitlose,
sich unablässig fortspinnende musikalische Bewegung, wie etwa
bei Philip Glass, oder als unendliche Reihung eines Klanges wie
in LaMonte Youngs arabic numeral, aber auch schon bei
Eric Satie, wenn er in seinen Vexations den Pianisten
stundenlang dieselben Takte spielen lässt.
Wie sehr das Thema Zeit und Musik weiterhin Komponisten,
Interpreten und Musikologen zu interessieren vermag, das zeigte
eine Musik-der-Zeit-Veranstaltung des Westdeutschen
Rundfunks in Köln. Harry Vogt, Nachfolger von Wolfgang Becker-Cars-tens
in der Neue-Musik-Redaktion des Senders, bevorzugt in seinen Programmgestaltungen
thematische Zusammenhänge und Verweise. So vermittelte auch
dieses Musik-der-Zeit-Wochenende in sechs Konzerten
unter dem Titel-Stichwort zeitlos spannende Einblicke
in die fortdauernde musikalisch-kompositorische Zeit-Diskussion,
für die hier Salvatore Sciarrino, Toshio Hosokawa, Wolfgang
Rihm und Georg Friedrich Haas neue Werke geschrieben hatten. Hinzu
traten außer einem ein wenig marginalen Auftritt des
indischen Sayeeduddin-Dagar-Ensembles mit Dhrupad-Gesang
gleichsam als schon historische Pflöcke eingeschlagen, John
Cages One9 and 108 aus dem Jahre 1991, das in der hier
wiedergegebenen Simultan-Fassung für Shô und Orchester
sogar als Uraufführung annonciert werden konnte, sowie Morton
Feldmans For Samuel Beckett (1987), ein fast einstündiges
Ensemble-Stück, in dem Feldman weniger Zeit komponiert
als vielmehr Zeit in Musik verwandelt, als ein und denselben
Zustand. Der Komponist erscheint dabei wie ein quasi unbeteiligter
Betrachter, der die in kurze, ständig repetierte Klangformeln
sich verwandelnde Zeit kühl distanziert beobachtet.
Aber dann scheint das intelligent erdachte Unternehmen doch eine
seltsame, fast kuriose Wendung zu nehmen: die (wortlose) Adaption
Becketts und seiner Sprache entfaltet in der Korrespondenz zum Komponierten
plötzlich eine große emotionale, sehr persönliche
Spannung, die hier um so stärker spürbar war, als dem
Dirigenten Sylvain Cambreling mit dem Klangforum Wien
eine absolut perfekte, gleichwohl ungemein leuchtende, im Klang
beinahe sensualistische und höchst plastische Wiedergabe des
Werkes gelang.
Einen kaum weniger zwingenden Eindruck hinterließ die Darstellung
des Cage-Werkes durch das WDR-Sinfonieorchester Köln (Einstudierung
Ken Takaseki) und die grandiose Shô-Spielerin Mayumi Miyata.
Innerhalb der von Cage festgelegten Zeitklammern entwickelten
die individuell agierenden Musiker bemerkenswerte Entscheidungslust
im Platzieren der vorgegebenen Klangereignisse. In das schwebende,
fantasievolle, ganz leicht dahinfließende Spiel des Orchesters
fügte sich Mayumi Miyata mit ihren Shô-Soli geschmeidig
und höchst klangpräsent ein.
Cage-Autorität: Die Shô-Spielerin
Mayumi Myata. Foto: Charlotte Oswald
Die Radikalität, mit der Feldman und Cage ihre komponierten
Klang-Zeit-Strukturen realisieren, ist vermutlich nur schwer weiterzutreiben.
Der Übersteigerung scheinen Grenzen gesetzt. So überraschte
es nicht, dass die anderen an dem zeit-los-Projekt beteiligten
Komponisten zum Teil wieder inhaltliche Assoziationen und Zeichen
mit ihrer Musik verbanden, genauer: aus der Musik Zeichen entwickelten,
die außermusikalisch deutbar sind, was bei Hosokawa und Sciarrino
auch an den Titeln ihrer neuen Werke ablesbar ist. Hosokawas Tabi-bito
(zu deutsch: Wanderer) stellt einen solistisch agierenden
Schlagzeuger (brillant: Isao Nakamura) dem groß besetzten
Orchester gegenüber: der Solist repräsentiert das Individuum,
das Orchester die Welt, den Kosmos, die Natur.
Das Individuum setzt einen Klang in die Welt, dessen Schwingungen
den leeren Raum vorübergehend besetzen, ehe sie
wieder in die Stille, in das Verlöschen zurückfallen.
Hosokawa greift in diesem Wechselspiel zwischen Erschaffung
des Kosmos und Rückfall in den Anti-Kosmos
auf philosophische Ideen des Taoismus zurück. Gestische Kreisbewegungen
des Solisten korrespondieren mit der in der Musik festgelegten Zeit-Struktur.
Der Wanderer schickt Klänge aus in die Welt,
die diese klingend definieren, aber nur für einen
kurzen Augenblick: im Verlöschen scheinen sie wie aus einer
anderen Welt, der Welt des Todes nachzuhallen. Aus dem Wechselspiel
gewinnt Hosokawa eine leise, intensive Innenspannung der Klänge,
in die sich der Zuhörer unmerklich hineingezogen fühlt.
Auf die Todesmetapher spielt auch Sciarrino mit seinem neuen Stück
Il giornale della necropoli (Tagebuch aus der
Totenstadt) für Akkordeon und Orchester an: feinste,
leiseste, oft kaum noch hörbare Klänge scheinen in unser
Innerstes eindringen zu wollen: die Totenstadt, das sind wir. Sciarrino
betreibt gleichsam klingende, tiefenpsychologische Palimpsest-Forschung,
die uns aus den Tiefen der Zeit etwas über die alten Erfahrungen
mitteilen möchte, die unablässig auch unser immer wieder
vergehendes Leben weiter bestimmen. Wie bei Hosokawa das Schlagzeug
scheint hier das Akkordeon (mit intensiv ausgehörten, oft nur
hingetupften Klängen gespielt von Teodoro Anzellotti) dem Individuum
die stille Menschliche Stimme zu geben.
Das Thema Zeit und zeit-los eröffnet
in der Musk immer wieder andere, neue und auch zurückblickende
Perspektiven. Wolfgang Rihms uraufgeführtes Werk mit dem Titel
Frage (für Stimme und sieben Instrumente) reflektiert
fünfzig Minuten lang über Koinzidenzen zwischen Malerei
und Musik, präzis: über Zeichensetzungen und Zeitstrukturen,
die sich aus der Beobachtung von Bildern (in diesem Fall der von
Rihm hoch geschätzten Malerei Kurt Kocherscheidts) für
ein autonomes Komponieren ergeben. Im (am) Bild interessiert allein
der Produktionsprozess. Für Rihm ergibt sich daraus
ein jeweils völlig neuer Kompositionsansatz, den er dann mit
der für ihn charakteristischen Fortschreibung und Sublimierung
des Materials auch diesmal wieder imponierend ausführt. Salome
Kammers Stimme und das Ensemble Recherche glänzten
mit einer perfekten und zugleich hoch expressiven Darstellung des
Werkes.
Immer ausgreifender und souveräner wird auch das Komponieren
des Österreichers Georg Friedrich Haas. Im einstündigen,
für vierundzwanzig Instrumente gesetzten In vain
(englisch: vergebens) werden in einer komplex gewebten Klangstruktur
aus temperierter Intonation und Mikrotonalität komponierte
Bewegungen quasi inszeniert, rasende Tempobeschleunigungen,
spiralförmige Drehungen kehren in sich selbst, in die Ausgangssituation
zurück, in einen rasenden Stillstand, in dem Zeit
wie aufgehoben wirkt.
Das ist kompositorisch raffiniert organisiert, gewinnt hoch gespannte
Bewegungsenergien und enorme Klangdichte. Kein Lob ist zu hoch für
die fulminante Interpretation des Werkes durch das Klangforum Wien
unter Sylvain Cambreling, das zum Abschluss der Konzerte unter demselben
Dirigenten noch Gérard Griseys Quatre chants pour franchir
le seuil zum ersten Mal in Deutschland vorstellte: Vier
letzte Lieder, klingende und gesungene Meditationen über
das Überschreiten der letzten Schwelle, auf Jahreszahlen
auf antiken Grabstätten, auf Texte von Vergänglichkeit,
Tod und das Ende der Zeit.
Cathérine Dubosc gestaltete Griseys Lieder mit tief berührender
Identifikation. Gérard Grisey hat seine Vier letzten
Lieder nicht mehr gehört. Im Rückblick erscheinen
sie wie eine dunkle Vorahnung seines frühen, unerwarteten Todes.
Zeit wird in diesen Liedern auch als Schicksal und Vergeblichkeit
erfahrbar. In Griseys Stele, die vor den Quatre
chants erklang, formen zwei Schlagzeuger aus dem dunklen Klang
zweier großer Trommeln die Grabsäule des
Komponisten:
Eine große Trauermusik zeitlos im klassischen Sinn.
Auch dieses subjektive Gefühl korrespondiert auf vielleicht
schwer erklärbare Weise mit der Objektivität von Zeit.