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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 4
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Cluster
Ausgestelltes Opfer
Zu den Eigenwilligkeiten unseres Kulturbetriebs gehört es,
dass kritische Bewertungskriterien immer wieder gleichsam unbesehen
über Bord geworfen werden. Freilich sind es keine unveränderbaren
Größen, dennoch muss irritieren, wie leicht ein Attribut,
etwa das des gefeierten Stars, alles andere außer Kraft setzt.
Bei dem Pianisten David Helfgott, der wieder auf Tournee ist, liegen
die Dinge noch komplexer. Er war wohl nie ein ganz begnadeter Klavierspieler,
wurde aber lange Zeit mit vielen Härten daraufhin getrimmt.
Irgendwann, der Erfolgsfilm Shine, der Helfgott schlagartig
berühmt machte, informiert darüber, machten Körper
und vor allem Geist nicht mehr mit. Helfgott wurde zum Opfer der
normalen Anforderungen, die der Kulturbetrieb unerbittlich stellt.
Lange Aufenthalte in Sanatorien, Koffeinabhängigkeit, der
Konsum von 120 Zigaretten täglich waren die Folge. Und immer
weiter bearbeitete er auch in diesen Zwangsumgebungen die Tasten
des Klaviers. Seine Liebe zur Musik war ungebrochen, allenfalls
gab es auch hier Symptome der Abhängigkeit. Ein Pianist freilich,
der den technischen Anforderungen unserer Tage genügt (sind
es unmenschliche?), wurde er auch so nicht. Nun aber kehrten die
kulturellen Vermarktungsstrategien zu ihrem Opfer, das Filmheld
geworden war, zurück. Unfertiges Spiel Helfgott verfügt
kaum über irgendwelche differenzierteren Anschlags- oder Artikulationstechniken
wurde zum Markenzeichen dafür, wie grausam der Kulturbetrieb
inzwischen geworden ist.
Am Dürftigen demonstriert sich Wahrheit nichts wäre
schlimmer für Helfgott, als wenn er sich zu einem mittelmäßig
guten Pianisten entwickeln würde. Helfgott steht nicht für
schlüssige Interpretation, sondern für die Grausamkeit
des Weges zu ihr. Er wird ausgestellt als Opfer. Wir alle gönnen
dem sympathischen Pianisten, dass er aufgrund solcher Zweitverwertung
inzwischen ein gutbezahltes, weithin sorgenfreies Musikerleben führen
kann. Er hat ein für sich optimales Los gezogen, ja er hat
es auch mit erkämpft. Aber das erspart es uns nicht über
Strukturen nachzudenken, die einen Menschen kaputt machen und dann
das Kaputte zur ästhetischen Kategorie erheben: Vielleicht
sogar noch mit dem Fingerzeig, dass es bei uns jedoch jeder schaffen
kann.