[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 55
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Das aktuelle Musikbuch
& neue Noten
Gummikeile, Schrauben und Filzstreifen
John Cage in der Nachfolge von Henry Cowell verfeinerte das experimentelle
Pianospiel
John Cage: Prepared Piano
Music 194047, Edition Peters.
Das Musikleben der USA hat im 20. Jahrhundert einen wesentlichen
Aufschwung erfahren; einige im Lande geborene Komponisten erlangten
eine solche Bedeutung, dass ihre Werke auch auf die so genannte
Alte Welt ausstrahlten und dort Spuren hinterließen. Zu diesen
Meistern zählen in erster Linie Charles Ives, Henry Cowell,
John Cage, Morton Feldman, George Crumb, Steve Reich und Conlon
Nancarrow. Mit Ausnahme von Steve Reich traten alle anderen Komponisten
mit einer Reihe von Klavierwerken an die Öffentlichkeit.
In Henry Cowells Schaffen bilden die frühen, bis etwa 1930
entstandenen experimentellen Klavierstücke den wichtigsten
Werkanteil. Hier entwickelte er bis dahin unbekannte Notationsarten
und arbeitete mit neuen Spielweisen wie mit Clustern und Fingerspiel
an den Saiten des Instruments. Das Werk von Nancarrow besteht im
Wesentlichen aus den Studies for Player Piano; mit Hilfe
dieses von ihm vorprogrammierten, mechanisch arbeitenden Instruments
hat er eine rhythmische Komplexität erzeugt, die für Interpreten
unspielbar ist.
Im äußerst vielfältigen und vielfarbigen Werkkatalog
von John Cage nehmen Klavierstücke einen beträchtlichen
Raum ein. Unter diesen findet sich ein großer Anteil von solchen,
die für prepared piano (präpariertes Klavier) geschrieben
wurden: An den Saiten des Instruments werden bestimmte Gegenstände
wie Gummikeile, Schrauben unterschiedlicher Größe oder
Filzstreifen angebracht, um den Klang zu verfremden und um neue
Tonhöhen und Tonfärbungen zu erzeugen. Cage hat seit Ende
der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts mit solchen Mitteln experimentiert;
was seine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Möglichkeiten
der Instrumentenbehandlung und der Klangerzeugung erkennen lässt.
Anregungen hatte er einerseits bei seiner Beschäftigung mit
ostasiatischen Kulturen, andererseits bei der Zusammenarbeit mit
seinem Lehrer Henry Cowell gefunden. Cage schrieb über diesen:
Ich habe ihn oft auf einem Flügel spielen gehört,
wobei er dessen Klang durch Zupfen und Dämpfen der Saiten mit
den Fingern und der ganzen Hand geändert hat. Bei einem anderen
Stück benutzte er einen Stopfpilz, den er der Länge nach
über die Saiten bewegte, während er, wie ich mich erinnere,
auf der Tastatur trillerte. Dies produzierte ein Glissando der Obertöne.1
In manchen Stücken für prepared piano werden alle Töne
präpariert, in anderen nur einzelne. Für jedes Stück
liefert Cage eine Tabelle, in der verzeichnet ist, mit welchem Material
welche Saiten an welcher Stelle versehen werden sollen. Dabei ist
eine gewisse, vom Komponisten eingeplante Unbestimmtheit nie auszuschließen;
dies liegt sowohl an seiner Ungenauigkeit in der Beschreibung des
Materials als auch in der unterschiedlichen Größe und
Bauweise der Instrumente. Jeder muss sich die Materialien mit seinen
eigenen Ohren aussuchen2 hat Cage mir sinngemäß gesagt,
nachdem ich in einem Konzert bei Radio Bremen seine Music
for Marcel Duchamp aufgeführt hatte. Stücke für
präpariertes Klavier von John Cage waren viele Jahre lang nur
in sehr teuren Einzelausgaben auf dem Markt. Erfreulicherweise hat
die Edition Peters jetzt zwei preiswertere Sammelbände von
je zirka 80 Seiten Umfang veröffentlicht, in denen zwischen
1940 und 1947 entstandene Prepared Piano Music zusammengefasst
wird. Die unter diesem Titel erschienenen Hefte (No. 67886 a und
67886 b) zeichnen sich durch hervorragenden, sehr gut lesbaren Druck
aus und kosten laut Katalog 2000 der Edition Peters je 29,50 Mark.
In chronologischer Anordnung beginnt der erste Band mit Bacchanale,
dem ersten Stück von Cage für präpariertes Klavier.
Es wurde früher dem Jahre 1938 zugeordnet (s. Katalog John
Cage der Edition Peters von 1962), heute gilt 1940 als Entstehungsjahr.
Der zweite Band endet mit der berühmten Music for Marcel
Duchamp, die Cage 1947 für einen Abschnitt über
Duchamp in dem Film Dreams That Money Can Buy von Hans
Richter schrieb. Das ursprünglich im Altschlüssel notierte
Stück wurde für die vorliegende Ausgabe in den Violinschlüssel
umgeschrieben. Leichtere und schwierigere Stücke stehen
nebeneinander, ebenso solche, die aufwändig und weniger aufwändig
zu präparieren sind. Dem ersten Band ist ein Vorwort mit dem
Titel Wie es zur Präparierung des Klaviers kam
vorangestellt, das auf John Cage zurückgeht (deutsche Übersetzung:
Kurt Michaelis).
Die Stücke für prepared piano von John Cage gehören
zu den wichtigsten Klavierkompositionen des 20. Jahrhunderts. Zu
hoffen ist, dass bald auch sein Hauptwerk für prepared piano,
der Zyklus Sonatas and Interludes (19461948),
in einer preiswerten Ausgabe folgen wird.
Peter Roggenkamp
1 John Cage, Prepared Piano Music, Volume 1, 19401947, S.
2
2 Peter Roggenkamp, Schriftbild und Interpretation in Neuer Klaviermusik,
Wien 1996, S. 48