[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 53
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Das aktuelle Musikbuch
& neue Noten
Absolute Zeitgenossenschaft
Diedrich Diederichsens 2.000 Schallplatten/Die Pop-Musik
und ihre Theorie wird historisch
Er war der Dieter Thomas Heck der Pop-Theorie: Kein anderer konnte
so irrwitzig schnell das, was gerade geschah, auf oft schwindelerregende
und fast immer treffende Begriffe bringen: DD, der sexy Denker einer
Szene, mit einem Markennamen, der nicht zufällig an BB oder
MM erinnert; der Durchblicker mit den besten Neologismen; der Chronist
der Augenblicke, die sich für ewig hielten. Jetzt, in die Jahre
gekommen und ein deutscher Dozent und Diskurs-Tourist geworden,
bastelt er mit ein paar raffinierten Essays aus 2.000 Momenten der
pop-history die Kritiken wurden in den 80er- und 90er-Jahren
in Sounds, Spex und Konkret
erstveröffentlicht die Geschichte einer Generation.
Altern als Problem. Nicht nur für zu Tode fotografierte, abgenutzte
Glamour-Ikonen, sondern genau so für die Theoretiker einer
Bewegung, die Jugend für ein Programm und für eine Tugend
per se hielt: Forever young! und The Kids are
allright! waren auch DDs Slogans, ehe ihn der Schock von Rostock-Lichtenhagen
und die ersten grauen Haare einholten.
1983 schrieb er, passend zum Sounds-Ende und SPEX-Debüt,
in der Besprechung einer Single der damals allseits geachteten Polit-Hedonisten
Heaven 17: Das Lied, das es einem wieder wert
erscheinen läßt, 37 Jahre alt zu werden. Damals
war DD 25. Jetzt ist er älter als Lothar Matthäus beim
EM-Desaster. Die Unmittelbarkeit ist dahin, weil er schon viele
absolute Augenblicke erlebt und auf diverseste Weise Recht und dann
gleich wieder Unrecht gehabt hat.
Aber DD sieht im Nacheinander der diskontinuierlichen hippen Jetzts!
nicht nur den Scherbenhaufen scheiternder Jugendbewegungen beziehungsweise
abgetaner Genres und Stile und in der wüsten, sich jagenden
Dialektik immer heftigerer Begriffsbildungen nicht deren fatale
(Selbst-)Widerlegung, sondern ein faszinierendes Muster. Wie einst
Hegel in der Phänomenologie,erzählt auch Diedrich
Diederichsen eine Bildungsgeschichte der Menschheit, die Logik all
der Räusche und Kater. Nur dass sein Medium nicht der Weltgeist
ist, sondern die Schallplatte. Pop, so das Diktum, ist schneller
als Philosophie: die rascheste Weise, die Wahrheit zu sagen.
Und wie Hegel findet auch DD den ultimaten Dreh: eine Begriffsgeschichte
der Sub-Kultur, die sich in allen Verästelungen permanent selbst
plausibilisiert in gewisser Weise haben die Kids
(und, mittlerweile, die sehr viel älteren Brüder, die
sie wohlwollend begleiten und überbieten) tatsächlich
immer recht, wenn auch nur als notwendiges Moment, als
weitere Facette und nicht in den Grandiositäts-Gefühlen
begnadeter Momente, die nichts anderes (aner-)kennen wollen.
2.000 Schallplatten sind, wenn man böse ist,
ein Archiv der Irrtümer, die durch subtilste Kasuistik zu einer
faszinierenden Kette fortschreitender Erkenntnisse uminterpretiert
werden. Wohlwollender könnte man sagen: Diederichsen war in
den letzten 20 Jahren immer und überall dabei, er war Teil
und Motor der Bewegung. Wer seine zersplitterte Autobiografie in
Kritiker-Dokumenten liest, erfährt alles Wesentliche über
den immer reicheren Pop-Kosmos. Und nicht nur das: Er kann in seinen
Splittern auch den Spiegel einer Welt erkennen, die aus den Fugen
geraten ist, weil sie sich, der Logik der Verwertungszwänge,
aber auch der privatesten Gier und der technologischen Erfindungen
folgend, immer mehr beschleunigt hat. Vielleicht ist der Pop-Kritiker
DD, gerade weil er nicht an den Fetisch Authentizität glaubt,
der reichste Phänomenologe einer Wirklichkeit, die keine Mitte
und keinen Ursprung mehr hat, die in fast allem de-zentriert und
Konstrukt, Artefakt, Kode ist. Diedrichsen reagiert
darauf nicht kulturkritisch (was immer falsch und fade ist), sondern
kämpferisch und erfindungsreich. Er versteht sich als Partisan
und Nomade; das setzt intellektuelle Wachheit voraus; der simple
Glaube hält dem Terror der Realität nicht mehr stand.
2.000 Schallplatten: Das ist weniger die Enzyklopädie
eines Fans, der nach der ultimaten Ordnung seiner Sammlung sucht,
sondern das Labor eines Pop-Rimbaud, manchmal auch Pop-Lenin, der
noch das kleinste, abseitigste Musikstück vor allem zum Anlass
nimmt, sein eigenes Instrumentarium der Beschreibung und Erklärung
der Welt weiter zu entwickeln und zu schärfen und sein eigenes
Repertoire an Haltungen und Posen immuner gegen Einwände und
Anschläge zu machen.
Wer 2.000 Schallplatten jetzt liest, ist Zeuge eines
mehrfach gebrochenen Abenteuers: Denn in dem Band sind ja nicht
nur die hastigen Stenogramme aus dem Herzen popmusikalischer Augenblicke
versammelt, sondern auch die innig-ironischen, blendenden Fußnoten
und Kommentare aus gebührendem historischen Abstand
und die knappen, essayistischen Resümees, die ein ganzes Zeitalter
in wenige Seiten packen, so reich, so wüst, vor allem so päpstlich-apodiktisch,
dass man sich mit Lust, manchmal auch mit produktiver Wut daran
abarbeiten kann.
Ein paar lange Jahre in den 80ern war DD der Mann, der nichts
falsch machen konnte, der sich im verminten Gelände der (Pop-)Diskurse,
politischen Analysen und Parteinahmen, auch der harschen Abrechnungen
und des dekonstruktivistischen Großreinemachens
mit einer verblüffenden, traumwandlerischen Sicherheit bewegte:
risikobereit und für jede Überraschung gut. Das ist lange
her. Jetzt spürt man überall die Melancholie; Älterwerden
kann ja auch heißen: Nicht-weiter-Wissen; der theoretische
Gestus ist immer noch zupackend, aber eben auch gebrochen; manche
würden vielleicht sagen: reflexiv. DD ist sich selbst historisch
geworden. Er schaut sich bei der Arbeit über die Schulter und
wenn wir seinem Blick folgen, erfahren wir nicht nur eine Menge
über die Geschichte der Pop-Musik, der Jugendbewegungen und
der bohemienistischen Szenen in den letzten beiden Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts.
1989, im Jahr des Mauerfalls, das auch, retrospektiv,
eine Wende, um nicht zu sagen Bruch in DDs Biografie brachte, erscheint
Neil Youngs Single Rockin in the Free World, eine hintersinnige,
ja hinterfotzige Hymne auf die siegreiche freie Welt
und ihren Underground. DD bezweifelt, mit guten Argumenten,
dass Neil Young das free einfach nur ironisch meint,
Vertrags-Freiheit und formales, auch formal gleiches Recht sind
tatsächlich die Essenz der western world. Aber
Neil Young/DD sehen auch, dass ein mindestens genau so wichtiges
und elementares Bedürfnis im sich ausbildenden Hyper-Kapitalismus
immer drastischer blamiert wird: das Recht, cool zu
sein, sich nicht verkaufen zu müssen, den Schwerpunkt seiner
Identität in sich selbst und nicht in seinem Chef oder
irgendwelchen funktionalen Erfordernissen zu
haben. Hegel wusste schon, dass in der bürgerlichen Gesellschaft
cool nur der sein kann, der über Geld verfügt.
DDs Buch und die Musik, die in erster Linie in ihm verhandelt
wird, erzählen von den oft fatalen Revolten und subversiven
Strategien gegen diese fortbestehende Einsicht und von den
Schönheiten, auch der Vitalität, die in diesem Kampf zumindest
für lange Augenblicke entstehen. DD verherrlicht das Scheitern
nicht, aber er verleugnet es auch nicht.