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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 51
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Das aktuelle Musikbuch
& neue Noten
Machtmittel, Werkzeug oder Zauberstab?
Von Dirigenten und ihrem ganz persönlichen Verhältnis
zu ihrem Instrument
Eckhard Roelcke: Der Taktstock.
Dirigenten erzählen von ihrem Instrument. Fotografien
von Steffen Ramlow und Hannes Ravic, Zsolnay 2000, 191 S.,
geb., 45 Mark.
Während meines Musikstudiums ging mir der eine oder andere
Stab entzwei. In die Partitur gesteckt, ragte seine Spitze heraus,
brach ab, und, welch Entweihung, nicht selten fand sich der Taktstock
in einem Blumentopf wieder, als Stütze für meine schief
wuchernden Gewächse. Nach der Lektüre dieses köstlichen
Buches wage ich das zu erzählen, denn auch die großen
Meister halten derlei Geschichten aus ihrem Anekdotenschatz parat.
Bernard Haitink hebt alle zerbrochenen Stäbe auf, schließlich
erweisen sie sich fürs Barbecue als äußerst nützlich,
und Semyon Bychkov besitzt eine große Sammlung der ausgedienten
einen wahren Taktstock-Friedhof. Holz scheint
nicht langlebig zu sein, als viel robuster erweisen sich da Glasfiber-Stäbe
die halten ewig, doch sie sind auch gefährlich, und
manch einem behagt das kalte Material nicht. Ashkenazy meint, mit
Holzstäben könne man sich nicht so leicht in die Hand
stechen, doch andere haben schon schmerzhafte Erfahrungen mit Holz
gemacht. Haitink mussten einmal viereinhalb Zentimeter Stock aus
der Hand herausoperiert werden. Immer wieder angeführt wird
das Schicksal des Jean-Baptiste Lully, der ein Te Deum
mit mehr als 400 Beteiligten aufführen wollte, mit einem langen
Stock der Musikermasse den Rhythmus stampfte, dabei unglücklicherweise
nicht den Boden, sondern sich selber traf und an einer Blutvergiftung
zugrunde ging.
Viele lassen sich ihre Stäbe eigens nach ihren Vorstellungen
herstellen. Zwei gefragte Namen werden dabei immer wieder genannt:
Henk Ummels und Richard Horowitz Taktstockbauer
aus Leidenschaft. Nicht alle Dirigenten bevorzugen den Stock. Den
Verfechter des stocklosen Dirigats schlechthin repräsentiert
heute Pierre Boulez, der von seinen Kollegen immer wieder erwähnt
wird. Er selbst erzählt: Als ich einmal einen ganz dünnen
Taktstock versuchte, hat er bei einer schnellen Bewegung in der
Luft richtig ,uiiiiiit gemacht. Wie eine Rute oder Peitsche!
Das finde ich unerträglich und unnötig. Ganz unabhängig
davon: Manche Dirigenten identifizieren sich mit dem Taktstock.
Es ist viel besser, selber ein Taktstock zu sein. Der Zauber kommt
aus dem Menschen.
Ist der Taktstock ein Machtmittel? Ist der Taktstock ein Musikinstrument?
Ist der Taktstock ein Werkzeug? Oder vielleicht ein Zauberstab?
Diese Fragen versuchen in diesem Buch große Dirigenten unserer
Zeit zu beantworten. Nicht alle waren bereit, über ihr Instrument
zu reden, schreibt Roelcke in seinem Vorwort, sei es aus Arbeitsüberlastung,
Desinteresse oder gar aus der Notwendigkeit, dabei auch Negatives
über Kollegen äußern zu müssen. Viele hatten
erstaunlicherweise kaum über den Taktstock nachgedacht, und
Eliahu Inbal sagt direkt: Kollegen sprechen sehr wenig miteinander
über ihre Taktstöcke. Das ist zu persönlich. Sie
sprechen auch nicht über ihre Unterhosen.
Jeder Dirigent hat individuelle Vorstellungen vom Dirigieren und
von seinem Instrument, und gerade das macht die Lektüre
von Der Taktstock so spannend. Die Gespräche ziehen
weite Kreise. Schulmäßiges wird ausgesprochen, verschiedene
Aspekte der Technik erörtert, Ausflüge in die Musikgeschichte
unternommen, Vorbilder und Lehrer die großen Alten
wie Furtwängler, Walter, Scherchen, Mrawinskij herangezogen
und zitiert.
Eckhard Roelcke hat zunächst Musikwissenschaft studiert, anschließend
die Hamburger Journalistenschule absolviert und arbeitet heute als
Journalist. So auch in diesem Buch: Er legt großen Wert darauf,
den Tonfall des Einzelnen zu bewahren, und auch die den Gesprächen
vorangestellten Einführungen lesen sich unakademisch und lebendig.(...noch
immer rinnt ihm der Schweiß über die Stirn. Dirigieren
ist harte, körperliche Arbeit. Tamayo spricht deutsch, redet
schnell und denkt noch schneller.) Die halbstündigen
Interviews wurden zwischen Flughafen und Konzertsaal, in Künstlergarderoben
und Hotellobbys geführt. Die wunderbaren Fotos von Steffen
Ramlow und Hannes Ravic sind spontane Porträts, lebendige Momentaufnahmen
der Maestros mit oder ohne Taktstock, je nachdem. Der Band
illustriert einen Aspekt der Orchesterleitung, dem bislang wenig
Beachtung geschenkt wurde, ein winziges intimes Detail, oft mystifiziert
und zum Machtsymbol erhoben.