[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 9
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Kulturpolitik
Jenseits des Schleswig-Holstein-Festivals
Mutproben und Selbstläufer: Musik in der Landeshauptstadt
Kiel
Die Dinge sind nicht mehr, was sie einmal waren. Zwar kann man,
wenn man die Treppen abwärts steigt, sehr wohl noch von den
rasenden Läufen eines zornigen Saxophons empfangen werden;
im Keller angelangt stellt sich jedoch die Frage, ob die Wut des
Bläsers nicht vor allem in der Zuhörerquote begründet
liegt, die an diesem Abend lange Zeit beschämend niedrig bleibt.
Ich weiß es nicht, antwortet Ute Pioch, Veranstalterin
des Jazz Clubs im Kommunikationszentrum Pumpe,
dezidiert resigniert auf die Frage nach den Gründen für
diesen mittlerweile chronischen Publikumsmangel. Solche Stoßseufzer
sind in der Stadt derzeit oft zu vernehmen nicht nur bei
Kiels dienstältester Konzertreihe zum Thema Jazz.
Sicher ist nur, dass Ute Pioch das Beste macht aus ihrem kleinen
Jahresetat von 4.600 Mark, dessen Bestand wiederum keineswegs gesichert
ist, denn im Kulturamt herrscht akute Katastrophenstimmung: Nachdem
die Stadt der regsamen Behörde mit treffsicherem Gespür
für exzellente Jazz-, Chanson- und sonstige Konzerte mit dem
KulturForum soeben neue Räumlichkeiten für
eigene Veranstaltungen eingerichtet hat, soll nun der Ausgabenetat
von 120.000 Mark dergestalt umgeschichtet werden, dass man dort
eben diese Veranstaltungen kaum mehr wagen kann. Ein Paradox, über
das von den Betroffenen niemand reden will und darf: Sie denken
logisch, attestiert ein Mitarbeiter, auf die Widersinnigkeit
der Entwicklung angesprochen.
Solche kulturpolitischen Entscheidungen fallen allerorten, in
der Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins zurzeit jedoch so gehäuft,
dass ein paar trübe Moll-Akkorde bei einer Bestandsaufnahme
zum Thema Musikleben nicht ausbleiben können. Doch
es gibt auch Wege, sie zu vermeiden: Die Frage, die uns im
Moment wirklich bewegt, ist die, wie man den Kieler Ring
noch toppen kann, konstatiert Ulrich Windfuhr, der Generalmusikdirektor
der knapp 234.000-Einwohner-Stadt im Land zwischen den Meeren. Der
fordernde Maestro, der hier seine dritte Spielzeit als Herr über
ein durchaus herausragendes B-Orchester erlebt, will nicht über
die kontrovers diskutierten Sanierungspläne für das extrem
renovierungsbedürftige Drei-Sparten-Haus sprechen, noch weniger
über den Vorschlag des Kulturdezernenten Heinz Rethage, das
Theater zu privatisieren, um auf diese Weise spürbare Einsparungen
in einem mit 44,1 Millionen Mark nicht eben üppig bemessenen
Gesamtetat zu erreichen. Vielmehr spielt er mit Nachdruck auf jene
künstlerische Qualität an, die die Kieler Oper mit ihrer
bundesweit und zum Teil sogar ein wenig weiter gelobten Inszenierung
der Wagnerschen Tetralogie erreichen konnte. Diese beachtliche
Visitenkarte aus der Feder der Regie führenden Operndirektorin
Kirsten Harms stellt keineswegs die Ausnahme dar. Auch im Opernalltag
versteht man es, mit den vorhandenen Mitteln Überdurchschnittliches
zu leisten, musikalische Selbstläufer und Mutproben geschickt
und ausgewogen miteinander zu kombinieren.
Die gleiche Linie wird bei den in der Saison monatlich stattfindenden
Philharmonischen Konzerten vertreten: Hier kombiniert
der GMD, der sich an so namhaften Vorgängern wie Klaus Tennstedt
zu messen hat, Schostakowitsch mit Beethoven oder Berg mit Bruckner,
um auf diese Weise herauszustellen, welche Werke des 20. Jahrhunderts
bereits repertoirefähig sind. Veranstaltet werden die
gut frequentierten Aufführungen indes vom Verein der
Musikfreunde, der das Kieler Konzertleben seit mittlerweile
hundert Jahren prägt. Die enge Zusammenarbeit mit dem Orchester
der Stadt ist Tradition, ebenso das Engagement einzelner Orchestermitglieder,
die das Kieler Musikgeschehen auch als Solisten oder Ensembleleiter
formen. Konzertmeister und Violinist Rüdiger Debus beispielsweise
feilt mit seiner Camerata Kiel an einer historischen
Aufführungspraxis, sein Kollege Robert König widmet sich
mit dem Sinfonieorchester des Ernst-Barlach- Gymnasiums
der großen romantischen Sinfonik; nicht zu vergessen das neu
gegründete Philharmonische Kammerorchester Kiel,
das sich unter wechselnden Dirigenten auch und besonders dem Rand-
und Nischenrepertoire verpflichtet fühlt. Die Zahl der außerdem
aktiven Laienorchester und semiprofessionellen Ensembles ist groß,
wesentliche Impulse kommen aus den Bereichen der Kirchen- und Universitätsmusik.
Überdies ist eine ausgesprochen ambitionierte Chormusikszene
zu verzeichnen: Der seit zehn Jahren bestehende Madrigalchor
Kiel unter der Leitung von Friederike Woebcken etwa wurde
1994 beim 4. Deutschen Chorwettbewerb in Fulda erster Preisträger
in der Kategorie gemischte Chöre.
So schmeckt das klassische Schwarzbrot außerhalb der drei
Sommermonate, in denen das Schleswig-Holstein Musik Festival
Land und Hauptstadt mit einer Fülle von großen Events
und Konzerten versorgt. Ein vergleichbares, wenn auch auf drei kurze
Tage begrenztes Festival in Sachen Jazz stellt die JazzBaltica
dar, im Kieler Kultusministerium vor gut zehn Jahren als kleine,
feine Idee geboren, heute renommierte Großveranstaltung im
nahen Salzau mit Sonderstatus in der europäischen Festivalszene.
Hier trifft man im Übrigen als Zuhörer auch viele derjenigen,
die an der achtbar ausbildenden vhs-Musikschule ein
Instrument erlernen und ihren Vorbildern vor Ort über die Schulter
schauen. Nachwuchsbands gibt es zahlreich quer durch die Genres,
und im Herzen der Hörn, dort wo der letzte Ostseezipfel das
Stadtzentrum zum Bruderkuss trifft, bot man mit dem Musico-Gebäude
vielen dieser Formationen lange Zeit bezahlbare Übungsräume.
Things aint what they used to be: Heute steht
dort kein Stein mehr auf dem anderen.