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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 11
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Kulturpolitik
Tagebuch
Kommentare, Analysen
Andere Seelen
Zu dieser Stunde ist in Nahost das Schlimmste noch nicht eingetreten.
Aber Friedlosigkeit herrscht, Misstrauen, auch Hass; Morde geschehen.
Die Nachrichten werden mit Bangen eingeschaltet. Zu diesem Zeitpunkt
kommen Gäste aus dem Theaterzentrum Acco mit seinem Leiter
Moni Yosef nach Berlin zu den Theaterwelten der Berliner
Festwochen 2000, ungewöhnliche Spieler, denen ich anfangs mit
Bangen zusah. Das Gastspiel des AccoEnsembles von 1992 fiel
mir ein, Arbeit macht frei, keine Vorstellung, sondern
eine Fahrt, die von Gedenkstätten ausging, mit Stationen, an
denen ein schal gewordenes Ritual von HolocaustGedenkfeiern
in Israel ablief, mit kritischer Intention natürlich
aber das in Deutschland? Diesmal sagte Moni Yosef, es sei um die
zweite Generation nach der Shoah gegangen, und die Töchter
und Söhne von Opfern hätten es viel leichter als die von
Tätern.
Die sieben Männer, die mit Boyi Kala Willkommen
Braut zum ersten Mal außerhalb Israels gastieren,
sind keine professionellen Schauspieler, obwohl einer, der DramaTherapie
studiert, schon aufgetreten ist und ein anderer in diesem Jahr begonnen
hat, Theaterregie zu studieren. Zum Gespräch kommen sie mit
ihrem Rabbi, einem ungewöhnlichen, sehr klugen und überlegen
wirkenden Mann, zurückhaltend in allem, was er spricht. Die
Spieler sind religiöse Juden, orthodoxe Juden, muss man wohl
doch sagen, obwohl es sicher nicht ganz korrekt ist, weil es so
viele Facetten des Orthodoxen gibt, verbunden mit Nationalismus
und Zionismus. Aber mit der Waffe gedient haben sie alle, und diese
Absolventen der jüdischorthodoxen Akademie in Maalot,
die in Acco Fragen an sich stellen und Außenstehenden aus
ihrer bislang geschlossenen Welt berichten wollten, sind teilweise
in der West Bank und Gaza aufgewachsen. In Acco leben Juden und
Araber zusammen, ist Moni Yosef mit Arabern familiär befreundet,
und er gab seinen Besuchern einen Araber aus dem Ensemble zum Lehrer,
zwei Jahre lang. Boyi Kala: Die Braut ist für die
Gläubigen der heilige Shabat. Nach jüdischtraditionellem
Glauben wird (wenn ich ihn richtig verstanden habe) die Seele im
Mutterleib auf ihr zukünftiges Leben vorbereitet, indem sie
die einzelnen Stationen durchschreitet und dann wieder in die Gebärmutter
zurückkehrt. Das Stück schildert diese Lebensreise mit
ihrer Suche, mit ihren Zweifeln und Gewissheiten und vor allem mit
ihren Fragen. Im Gespräch mit den Spielern sagte einer, dass
ein Gebet auch etwas vom Theater habe und Theater wie ein Gebet
sein könne. Das Theaterzentrum Acco wird, seitdem es dieses
Stück spielt, immer wieder von Orthodoxen besucht, die Antworten
auf Fragen suchen, auf die es keine Antworten gibt. Rechte
sind sonst nicht meine Freunde, auch nicht, wenn es Juden sind,
denen ich mich als von der Shoah Verwundeter nahe fühle. Aber
ich denke, dass hier einige sind, die nie mehr die Waffen auf Mitmenschen
richten, wenn diese nur ihr Lebensrecht verteidigen. Theater als
Gebet hieße dann: um Freunde bitten.
Gedächtnismuffel
In einer Diskussion über die CDEdition des Deutschen
Musikrates Musik in Deutschland 19502000 fiel
das Wort Amnesie. Gemeint war die Uninteressiertheit
an der jüngsten Vergangenheit beziehungsweise deren Unkenntnis
in einzelnen Bereichen der Kritik und Musikpublizistik. Im engeren
Sinn handelt es sich um die Partielle Amnesie, die (nach
psychologischer Sachauskunft) einen meist funktional begründeten
Gedächtnisausfall, bezogen auf einen umschriebenen Zeitabschnitt,
eine Situation oder auf einen bestimmten Erlebnisbereich,
benennt. Nun haben KritikerInnen, die nicht wissen (wollen), was
in den zwanziger bis fünfziger Jahren musikalisch geschah,
diese meist gar nicht selber wahrgenommen, obwohl sich jeder im
Detail kundig machen kann. Das Problem liegt aber tiefer. Der ausgesparte
Erlebnisbereich ist politisch und will von der Gegenwart
aus politisch bedacht sein. Das ist anstrengend, nicht genussvoll
und keineswegs in. Es bringt auch wenig ein, weder Image
noch Geld. Fraglich ist ferner, ob die Analyse von Destruktion weiterhilft,
was Mark André und ClausSteffen Mahnkopf in ihrem Dekonstruktiv(istisch)en
Manifest versuchen. Der österreichische Komponist Gerhard
E. Winkler tritt in Anlehnung an Plessners Befreites Sehen
für die Ambiguität der Wahrnehmung ein als
Weg in die Zonen der Gestaltaufhebung. Ohne einen dieser Denkansätze
pauschal abwerten zu wollen, bleibt festzuhalten, dass verdrängte
Gedächtnisinhalte in der Regel nicht mehrdeutig, sondern nur
allzu eindeutig sind. Sich ihnen zu stellen heißt, auch das
in sich anzunehmen und sich dafür als (mit)verantwortlich zu
erklären, was man nicht selber erlebt hat, was aber in den
mitgenommenen Prägungen und Überlieferungen den
musikalischen und den nichtmusikalischen enthalten
ist. Die Aufhebung der Partiellen Amnesie ist, so gesehen, eine
besondere Art von Gedächtnisleistung: Das Bedenken des innerlich
vielleicht abgelehnten Teiles der Geschichte, der sich ereignet
hat und im andersartig Gegenwärtigen immer noch ereignet.
Nabelschnur
Die Berliner Operndiskussion hat ein kurzzeitiges Verfallsdatum.
Nach dem Eingreifen der Deutschen Opernkonferenz rotieren die Debattenrunden,
sei es in Klausur, halböffentlich oder als GerüchteEintopf.
Die Fakten liegen nach Berichten in allen Medien auf dem Tisch;
was ich hinzufügen könnte, mag beim Erscheinen dieser
Zeitung überholt sein. Ich wähle daher ein anderes Vorgehen.
Warum nervt dieses Thema so? Vor allem, weil es unter den derzeitigen
Gegebenheiten keine künstlerisch befriedigende Lösung
gibt (natürlich auch nicht in dem vorerst ad acta gelegten
Denkanstoß aus dem Hause von Senator Stölzl)
es sei denn, der Bund rettete die Deutsche Staatsoper
oder ein Supermäzen träte auf, weit über die bisherigen
Spendenzusagen hinaus; beides ist utopisch. Anderes gilt es zu bedenken.
Berlin ist nicht der (Opern)Nabel der Welt, ganz und gar nicht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand in die Hauptstadt fährt
um einer Opernaufführung willen; im Unterschied wohl zu München,
Stuttgart oder Zürich. Oper ist nicht das Wichtigste auf der
Welt; man muss das leider sagen und somit Verständnis für
die Abgeordneten aufbringen. Die immer wieder selbst an der
Spitze der Deutschen Opernkonferenz beschworene Tradition
ist eine Nabelschnur, die von einer aufrüttelnden, zeitnahen
Produktion durchtrennt werden muss, ohne sie zu vergessen, ohne
in die zuvor beschriebene Amnesie zu verfallen. Formal bedeutet
die Tradition gar nichts; ihrer eingedenk sein heißt auch,
von ihr die Freiheit zu übernehmen, das Tradierte radikal zu
verändern. Dass die gegenwärtige Berliner Opernsituation
vielversprechend sei, mag wohl niemand behaupten, also muss man
an ihre Wurzeln gehen. Die OpernÄra Barenboim
endet bereits im Sommer 2002. Dieses Finale wird von antisemitischen
Attacken begleitet, die zu bestürzend sind, um harmonisierend
darüber hinwegzusehen, obwohl Barenboim offensichtlich eine
Verknüpfung mit der Operndiskussion nicht wünscht. Hat
das eine mit dem anderen gar nichts zu tun? Finanzpolitisch sicher
nicht, politisch aber schon. Es geht um ein neues Denken. Wer dauernd
die Tradition im Munde führt, meint häufig
nicht diese, sondern Restauration. Oper muss ein Synonym für
Neues, Zukunftweisendes werden. Wer das nicht schaffen will oder
kann, sollte sich zurückhalten. Ist es zu teuer,
würde das Geld besser gespart.