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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 1
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Leitartikel
Das Land der Musik schafft die Musik ab
Opern in Berlin Theater in Würzburg, Wuppertal, Schwerin
· Von Gerhard Rohde
In Berlin werden Musikschulen fusioniert, sollen zwei Opernhäuser
kurzgeschnitten werden. In Würzburg will man das Dreispartentheater
in einen Gastspielbetrieb umwandeln. Auch in Wuppertal und Schwerin
drohen Theaterschließungen. Ungemach droht dem Kulturleben
vielerorten. Bibliotheken können keine Bücher mehr kaufen,
Museen keine Einzelausstellungen organisieren. Protest erhebt sich.
In Würzburg marschieren Theaterkünstler, Musiker, kulturell
engagierte Bürger zum Rathaus. Nützt der Protest etwas?
Zweifel bleiben angebracht. Imerhin hat man in Würzburg die
Entscheidung vorerst verschoben für wie lange? Skepsis
überwiegt, dass bessere Einsicht eine Wende bewirken könnte.
Das Wort Leitkultur, heftig umstritten (siehe nebenstehendes
Editorial) wegen vorgeblicher Überheblichkeit, erhält
unversehens einen anderen, fatalen Sinn: Unsere Kultur ähnelt
immer mehr einer Anleitung zum Abbau von Kultur.
Wenn erst eine Stadt anfängt, ihr Theater, ihre Oper, ihr
Orchester abzuschaffen, wird das schlechte Beispiel rasch Nachahmer
andernorts finden. Es rumort auch schon in Wuppertal und in Schwerin.
In Würzburg genügt schon der Albtraum eines von Etatnöten
geplagten Kämmerers, um den Anti-Theater-Furor zu entfachen.
Hat der Kämmerer überhaupt überlegt und durchgerechnet,
was eine solche Liquidierung an jahrelangen Folgekosten
mit sich bringen würde? Unkündbare Theatermitglieder müssten
ohnehin weiter bezahlt, schon bestehende Verträge ausgezahlt
werden, ebenso Abfindungen. Allein die Auflösung eines Orchesters,
in diesem Fall von einem 56 Musiker umfassenden Ensemble, dürfte
Millionen erfordern. Und für diese Kosten gäbe es keinen
Gegenwert in Gestalt eines lebendigen, an- und aufregenden Theaters.
Wir haben in Würzburg speziell in der Oper hervorragende Aufführungen
erlebt, Novitäten, Ausgrabungen, einen hochanständigen
Wozzeck von Berg, Debussys Pelléas
und zuletzt einen fabelhaft gelungenen Salieri. Das waren und sind
Aufführungen, die das Theater einer Stadt ins Gespräch
bringen, die ihm Lebendigkeit verleihen, ihm ein unverwechselbares
Gesicht geben. Ein Gastspielbetrieb vermag so etwas niemals zu leisten.
Das Theater einer Stadt als Schauspiel, als Oper, als Ballett
betrieben ist immer auch ein Teil dieser Stadt, des Lebens
ihrer Bürger, ist über die Kunst hinaus auch Treffpunkt,
ein Ort gemeinsamen Erlebens, eine Stätte der Begegnungen,
ein Forum, auf dem Fragen unserer Zeit diskutiert und dargestellt
werden. Eine Stätte, die zugleich ein Stück Identität
für die Stadt und ihre Bewohner bedeutet.
Dieses Gefühl für Identität wird von vielen Politikern,
und zwar auch und gerade von den Kommunalpolitikern, die es eigentlich
spüren müssten, mit Füßen getreten, nicht nur
in Würzburg. Man kann doch nicht einfach eine Stadt ihrer Stadtmusik,
sprich: ihres Orchesters, berauben. Ein Orchester, wie das in Würzburg,
tritt schließlich nicht nur im Theater oder im Konzertsaal
auf, sondern durchwirkt mit seinen Musikern das Musikleben in der
Gemeinde auf vielerlei Art und Weise: lehrend in den Musikschulen,
begleitend in den Aufführungen der ansässigen Chorvereinigungen,
die mit bewundernswertem Einsatz ein- oder zweimal im Jahr mit anspruchsvollen
Aufführungen großer Chorwerke hervortreten. Will man
diese in vielen Jahrzehnten, ja Jahrhunderten gewachsene Musikkultur
zerstören, nur weil vorübergehend die Gewerbesteuereinnahmen
zurückgegangen sind? Warum muss das Theater geopfert werden,
nur weil das Wirtschaftsressort im Rathaus die Zeichen der Zeit
übersehen hat? Und selbst wenn es gelänge, durch die Schließung
des Theaters zehn Millionen Mark einzusparen wären mit
diesen zehn Millionen grundlegende Strukturmängel zu beheben?
Die Frage stellen, heißt sie verneinen. Das Theater, der Kulturhaushalt
allgemein ist immer der bequemste Weg des Sparens, weil Kultur nicht
zu den gesetzlich fixierten Verpflichtungen der öffentlichen
Hand zählt.
Zweifelhaftes Vergnügen
Wer das zweifelhafte Vergnügen hat, gelegentlich den Sitzungen
der Kulturausschüsse in den Parlamenten, auch den Parlamentssitzungen
selbst, beizuwohnen, den überfällt beim Anhören der
Kulturdiskussionen in der Regel tiefe Depression. Da hocken nun
die von uns gewählten und uns vertretenden politischen Repräsentanten,
schmoren im eigenen Gehirnschmalz und faseln über Kultur, wie
sie diese verstehen. Und setzen dann noch die Miene des Entsetzens
auf, wenn ein Ausländer, der nichts von Leitkultur
weiß, durch die Straßen gehetzt, oder ein kleiner Junge,
nur weil sein Vater Iraker ist, vor den Augen deutscher Menschen
in einem Schwimmbad von deutschen Rowdies zu Tode gequält wird.
Die deutsche Zivilgesellschaft befindet sich psychisch und moralisch
derzeit in einem desolaten Zustand, und die Erosion dürfte
fortschreiten, wenn nicht hier und jetzt mit aller Entschiedenheit
gegengesteuert wird.
Die deutsche Kulturpolitik, die Parteien, die Parlamente, die
Regierungen in Bund, Ländern und Gemeinden stehen vor den Trümmern,
die vielleicht schlimmer sind als zerstörte Städte und
Landschaften nach einem Krieg, weil diese neuen Verwüstungen
auf den ersten Blick nicht erkennbar werden: Es sind die seelischen
Beschädigungen, die Verkümmerungen der Fantasie und der
Gefühle, die in wachsendem Maße als Aggressionen nach
außen drängen. Die innere Wiedervereinigung Deutschlands
wäre sicher weiter vorangeschritten, hätte man sie auf
einer dicht geknüpften und weit gespannten Struktur kultureller
Angebote und Initiativen aufgebaut. Pauschalkonzepte existieren
für eine so orientierte Kulturarbeit nicht, sie kann nur dann
zu positiven Ergebnissen führen, wenn man mit unendlicher Geduld
Tag für Tag und ohne großes politisches Trara diese Kulturarbeit
leistet. Würzburg darf nicht zum Menetekel werden und auch
nicht Wuppertal, Schwerin und schon gar nicht die Opernlandschaft
Berlins. Im anderen Fall würde man eines Tages erleben, dass
dieses Deutschland im Begriff ist, sich selbst zur Disposition zu
stellen. Statt Grüner Karten gäbe es dann nur noch eine
Karte: die Rote.