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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 5
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Musikwirtschaft
Ein Ort zum Verweilen und Schmökern
Unternehmer-Poträt: Cantus 139 macht den Berliner Musikalienhändlern
Konkurrenz
Wie schön, dass Ihr wieder da seid! Das ist ein
Satz, den Regina Steinhäußer und ihre Mitarbeiter fast
täglich von Kunden hören, die ihr Berliner Geschäft
in der Kantstraße 139 betreten. Cantus 139 heißt
die Musikalienhandlung, die die ehemalige stellvertretende Leiterin
des renommierten Ladengeschäfts von Bote & Bock zusammen
mit ihrem neuen Partner, Olaf Enderlein, im September diesen Jahres
eröffnet hat. Im März hatte Bote & Bock zum Entsetzen
vieler Kunden endgültig seine Tore geschlossen. Boosey &
Hawkes, die das Verlagshaus Bote & Bock vor einigen Jahren übernommen
hatten, zeigten kein großes Interesse am Direktverkauf: eine
Gleichgültigkeit, die in diesem Jahr mit der Schließung
der Handlung endete.
Regina Steinhäußer, die dem Geschäft 30 Jahre lang
die Treue gehalten hatte, wollte sich weder mit der Arbeitslosigkeit
abfinden, noch sich in einem anderen Betrieb einer neuen Geschäftsführung
unterordnen. Der Besuch des Stammkunden Enderlein in den letzten
März-Tagen gab den Ausschlag. Das geht doch nicht,
fanden beide und beschlossen, sich die entstehende Chance zu Nutze
zu machen und den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen.
Nicht weit entfernt von dem ehemaligen Ladenlokal in der Hardenbergstraße
fanden die beiden Räumlichkeiten in bester Lage. Nur wenige
Schritte vom Savignyplatz entfernt und noch erreichbar für
Studenten und Lehrer der Hochschule der Künste haben sie gute
Chancen, die verwaisten Kunden wieder an sich zu binden.
Auch, wenn die Konkurrenz in der Zeit des Vakuums nicht geschlafen
hat. Der große Wettbewerber, die Musikalienhandlung Riedel,
beäugte die Neugründung misstrauisch. Und auch das Kulturkaufhaus
Dussmann hätte vom Wegfall eines Konkurrenten profitieren können.
Aber Konkurrenz belebt das Geschäft. In einer (Kultur-) Metropole
wie Berlin ist das Nebeneinander von drei Großen wirtschaftlich
mehr als tragbar, und der Kunde kann davon nur profitieren.
Der Weg von der Hardenberg- in die Kantstraße war allerdings
steiniger als zunächst angenommen. Die ausgeguckten Räume,
seit mehreren Jahren leerstehend und total heruntergekommen, mussten
von Grund auf renoviert werden. Das Existenzgründerdarlehen,
das die beiden GmbH-Gründer aufgenommen hatten, wurde nicht
zuletzt durch die Baumaßnahmen aufgezehrt. Baupläne existierten
nicht, so dass erst sehr spät ein besonderes Schmankerl zu
Tage trat, das dem Ladengeschäft heute ein ganz besonderes
Gesicht gibt: große Rundbögen, die die beiden nebeneinander
liegenden, vorher durch eine Mauer getrennten Lokalitäten miteinander
verbinden. Die so entstehende anheimelnde Atmosphäre wird durch
gediegene Holzmöbel und eine geschickte Raumausnutzung noch
verstärkt: ein Ort zum Verweilen und Schmökern.
Die Schwerpunkte des Bote & Bock-Programms haben die Cantus-Eigentümer
beibehalten. Zwar werden keine Instrumente mehr verkauft, und das
Lager ist notgedrungen kleiner geworden. 105 Quadratmeter Ladenfläche
zwingen zu gewissen Einschränkungen. Aber das Musikbuch-Programm
ist nach wie vor umfassend, auch fremdsprachige Bücher gehören
ins Sortiment. Stark ist Cantus 139 nach wie vor im
U-Musik-Bereich, wobei gerade hier die Kunden die neuen Alten
erst wieder entdecken müssen. Ein wichtiger Kundenstamm ist
Regina Steinhäußer trotz der Pause von immerhin sechs
Monaten, treu geblieben: die Berliner Bibliotheken, die vorher in
der Hardenbergstraße orderten. Ein Pfund, das die Konkurrenz
sicher gerne übernommen hätte.
Das neue Team besteht neben den Geschäftsführern aus
drei ehemaligen Bote & Bock-Kollegen. Diese garantieren zusammen
mit Regina Steinhäußer, der gelernten und erfahrenen
Buch- und Musikalienhändlerin, die Kontinuität des Unternehmens.
Für Olaf Enderlein, den Musikwissenschaftler, ist der Musikalienhandel
zunächst noch eine neue Welt. Allerdings verhilft ihm das Aufbaustudium
Kulturmanagement, das er absolviert hat, dazu, einen großen
Teil der betriebswirtschaftlichen Aufgaben zu übernehmen.
Die Frage, ob es in einer Zeit, in der der E-Commerce den Ladenhandel
in allen Bereichen immer mehr zu vertreiben droht, überhaupt
noch opportun sei, ein Musikgeschäft zu betreiben, gar eines
neu zu eröffnen, gehen die beiden Inhaber gelassen an. Gerade
Noten und hochwertige Bücher wollen die Kunden nach wie vor
in die Hand nehmen, durchblättern, bevor sie sich zum Kauf
entscheiden.
Wesentlich ist die Beratungsdienstleistung: bei einer Flut von
Verlagskatalogen und -angeboten sei das Wissen des Händlers
gefragt, der die Bedürfnisse des fragenden Kunden erkennt und
befriedigen kann, so Olaf Enderlein.
Die Gefahr sieht er eher bei den Verlagen: die Möglichkeiten
des Direktverkaufs über das Netz könne eine veränderte
Rabattpolitik gegenüber den Händlern nach sich ziehen.
Zur Zeit halten die Verlage in ihren Verlautbarungen jedoch an der
Bedeutung der herkömmlichen Vertriebswege fest. Zumindest gibt
Enderlein der Branche des Musikalienhandels noch etwa 20 Jahre Zeit.
Aber was danach kommt, wage ich heute nicht zu prognostizieren.