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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 39
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Jazz,
Rock, Pop
Auf der Suche nach dem Pop kreuzen sich Wege
Zur Essener Tagung Quo vadis Pop? · Crossover
von Soziologie, Medien- und Politikwissenschaften
Ginge es nach der Negativen Dialektik der Frankfurter Schule,
würde die Soziologie auch weiterhin einen großen Bogen
um die Popmusik machen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hätten
im Angesicht einer Popkultur heutigen Ausmaßes sicher noch
einmal ihren Aufsatz Kulturindustrie gezückt, den
Zeigefinger erhoben und lauter denn je Aufklärung als
Massenbetrug! gerufen: Popkultur gewissermaßen als letzte
Bestätigung, dass die Einheit von Manipulation
und Massenbedürfnis nunmehr final hergestellt sei.
Dass sich die Soziologie dennoch crossover mit anderen
Wissenschaftsdisziplinen am 10. und 11. November in Essen traute,
sich der Popmusik als einer wissenschaftlichen Herausforderung zu
stellen, markiert daher auch die Emanzipation von wissenschaftlichen
Idolen und ihren kulturellen Vorurteilen: Die Essener Tagung Quo
vadis Pop? unter Leitung von Manfred Mai (Essen) und Klaus
Neumann-Braun (Frankfurt/M.) näherte sich der Popmusik nicht
mehr ideologisch sondern phänomenologisch also von der
Sache her.
Aber da begannen gleich auch die Probleme: Wie wissenschaftliche
Zugänge finden zum explodierenden Gemisch aus Stilrichtungen
und den sich dahinter verschanzenden und darin inszenierenden Lebenswelten?
Wie beides einordnen in ein wenigstens einigermaßen schlüssiges
Theoriekonzept? Und: Wie dabei gleichzeitig der Gefahr einer vorschnell
totalisierenden Perspektive entgehen? Vorsichtig zog der Ulrich-Beck-Schüler
Neumann-Braun zu Beginn deshalb einige individualisierungstheoretische
Stege über das sumpfige Terrain: Ausdrucksform einer fortgeschrittenen
Inszenierungs- und Distinktionsgesellschaft sei der
Pop, erklärte er. Und dieser gesellschaftliche Trend zur Unterscheidung
und Abgrenzung über Pop bei gleichzeitigem Zusammenrücken
in der eigenen Geschmacksgruppe werde in den nächsten Jahren
noch zunehmen. Und damit auch die schon jetzt unübersehbare
Vielfalt an Pop-Formen. Es werde keine Rückkehr mehr
geben zu einer klaren übersichtlichen Popszene wie noch
Anfang der 70er-Jahre. Dass bahnbrechende neue Stilrichtungen in
der Popmusik nicht mehr zu erwarten seien, darauf hatte zuvor schon
Manfred Mai hingewiesen. Die Zukunft der Popmusik liege in der Kunst,
immer mehr alte Formen auf originelle Weise neu zu kreuzen
Crossovers genannt.
Die bunte Evolution der Formen und Musikszenen entzünde sich
immer stärker an der Reibungsfläche zwischen
Kunst und Kommerz, meinte Olaf Karnik (Köln). Die
in immer kürzeren Zyklen erfolgende Geburt von Szenen und Gegenszenen
beschrieb er als Pendelbewegung zwischen Einzigartigkeitsanspruch
und Ausverkaufsängsten. Der Mechanismus sei immer
derselbe: Wachse sich eine verschworene Szene aus ihrem anfänglichen
Underground-Dasein zur Massenbewegung aus zum
Beispiel HipHop und Techno sei der Protest der Puristen vorprogrammiert:
Der Kommerzfraktion wird dann vorgeworfen, die Musik zu verraten
Abspaltungen der Puristen folgten. Pech nur für die
Puristen: Der Markt sei inzwischen schneller als das Originalitätsbedürfnis
der Kunstfraktion in den jeweiligen Szenen: Der
Underground selbst sei inzwischen schon mainstreamisiert,
deutete Karnik die zunehmende Aussichtslosigkeit dieses Rennens
zwischen Szenen-Hasen und Musik-Markt-Igel.
Wie stark bestimmte Szenen in ihrer Identitäts- und Originalitätsgenerierung
historischen Vorbildern folgen, zeigte Christoph Scholder (München)
Schüler von Techno-Papst Ronald Hitzler (Dortmund)
am Beispiel der Gothic-Bewegung. Die Vergemeinschaftung der Gothics
erfolge über Chiffren wie Schottland, Nebelschlösser,
Kerzenlicht, Rotwein, Friedhöfe. Aber woher kommen diese
kollektivierenden Attribute, über die sich die etwa 60.000
Gothics als Jünger einer neuen Innerlichkeit wieder erkennen?
Lebensmotto: Ernst macht Spaß: Aus der Romantik,
antwortet Scholder. Wissenschaftlich interessant findet er, dass
diese Übernahme aus der Zeit von Novalis offenbar unreflektiert
erfolgt sei: Die Gothics wissen nicht, dass sie eine 200 Jahre
alte Hochkultur nachspielen, wundert sich Scholder. Parallelen
gebe es auch auf der ideologischen Ebene: Verstand sich die alte
Romantik schon als Oppositionsbewegung der Innerlichkeit
gegen den kalten Rationalismus, so inszenierten sich heute auch
die Gothics als Antwort auf den Verlust von Verbindlichkeit.